Was hat der Finanzsektor mit der Massenarbeitslosigkeit zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Schürft man aber tiefer in der Struktur des gegenwärtig herrschenden Finanzmarktkapitalismus, so findet man heraus, dass diese beiden Phänomene sehr viel miteinander zu tun haben. Man könnte sogar sagen, dass der spekulative Finanzsektor und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die zwei Seiten ein und derselben Medaille im Kapitalismus sind. Davon erzählt dieser Beitrag. Es handelt sich um eins der zahlreichen Einzelergebnisse aus meinem kürzlich erschienenen Buch »Braucht die Welt den Finanzsektor?«.
Ein wichtiges Ereignis der deutschen Geschichte scheint inzwischen in Vergessenheit geraten zu sein: Helmut Schmidt – der letzte keynesianische Bundeskanzler einer sozialliberalen Regierung – hat das Ende seiner Kanzlerschaft in Kauf genommen, weil er sich weigerte, der Forderung des liberalen Koalitionspartners nach Kürzung der Staatsausgaben nachzukommen. Mit dem Bekenntnis »fünf Prozent Inflation sind mir lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit« beendete Helmut Schmidt 1982 die Ära der sozialliberalen Koalition. Tatsächlich war in den 1980er Jahren die keynesianische Politik der kreditfinanzierten Staatsausgaben an ihre Grenzen gestoßen. Statt Wachstum und Beschäftigung zu erzielen, führte sie zu steigender Inflation. Mit Helmut Kohl als Bundeskanzler einer schwarz-gelben Regierung begann im selben Jahr, nach Großbritannien und den USA, auch in Deutschland das neoliberale Zeitalter. Verfechter der neoliberalen Wirtschaftspolitik führten die Wachstums- und Beschäftigungskrise in den hoch entwickelten Industriestaaten auf steigende Arbeitskosten und sinkende Wettbewerbsfähigkeit zurück. Fortan wurden sinkende Arbeitskosten auch zum Schlüssel einer Wirtschaftspolitik erklärt, die zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen sollte. Bezeichnenderweise trug das sogenannte Lambsdorffpapier – das erste neoliberale Manifest im deutschsprachigen Raum – die Überschrift »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit«.
Das Ergebnis dieser Wirtschaftspolitik ist nach beinahe vier Dekaden ernüchternd. Keine der in Aussicht gestellten Verheißungen, weder mehr Wachstum noch weniger Arbeitslosigkeit, konnte erreicht werden. Ganz im Gegenteil: Die Wachstumsraten sanken in den wichtigsten Industrieländern zwischen 1975 und 2010 kontinuierlich, in den USA von drei auf zwei Prozent, in Deutschland von 2,5 auf zwei Prozent, in Frankreich von drei auf ein Prozent, in Großbritannien von 2,3 auf zwei Prozent und in Japan von 4,5 auf ein Prozent. Im selben Zeitraum nahm die Massenarbeitslosigkeit in diesen Staaten, entgegen offiziellen Bekundungen, ständig zu: in den USA von 5,5 auf 9,5 Prozent, in Deutschland von 2,5 auf 6,8 Prozent, in Frankreich von drei auf 9,5 Prozent in Großbritannien von drei auf acht Prozent und in Japan zwei auf fünf Prozent. Noch dramatischer entwickelte sich die Massenarbeitslosigkeit in der EU in der Gesamtschau und vor allem in den südeuropäischen EU-Staaten. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote für die EU ist von Anfang der 2000er Jahre bis 2013 von 9,2 auf 10,8 Prozent gestiegen. Im Januar 2017 lag sie immer noch knapp unter zehn Prozent. Besonders hoch war diese Rate Anfang 2017 in den südeuropäischen Staaten mit 23 Prozent in Griechenland, 18,2 Prozent in Spanien, 11,9 Prozent in Italien und 10,2 Prozent in Portugal. Skandalös und politisch gefährlich ist die Jugendarbeitslosigkeit in der gesamten EU. Sie liegt deutlich über dem durchschnittlichen Wert. In Griechenland ist fast jeder zweite, in Spanien und Italien mehr als jeder dritte Jugendliche arbeitslos.
Entgegen Äußerungen wie »die Beschäftigtenzahl war noch nie so hoch« in Deutschland, so Bundeskanzlerin Angela Merkel, sieht die Realität anders aus. Das »neue Jobwunder« in Deutschland ist bei näherem Hinsehen Ergebnis kosmetischer Bearbeitung der Statistiken. Tatsächlich ist die Zahl der Stellen in Deutschland zwischen 1990 und 2015 um 10,9 Prozent gestiegen. Die Zahl der insgesamt in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden ist im selben Zeitraum aber um 2,1 Prozent gefallen. Daraus schlussfolgern Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff in ihrem aufschlussreichen Buch »Die Zahlentrickser: Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen«, dass das »Jobwunder« darauf beruhte, »dass das Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt wurde«, allerdings nicht durch Arbeitszeitverkürzung, wie es sozialpolitisch eigentlich geboten wäre. Vielmehr wurden die 28,9 Millionen Vollzeitstellen, die es 1991 gab, auf 23,9 Millionen im Jahr 2015 reduziert. Die Zahl der Teilzeitstellen stieg im gleichen Zeitraum von 5,5 auf 14,8 Millionen. Trotz dieser Scheinvermehrung von Arbeitsplätzen waren 2015 nach offiziellen Verlautbarungen im Schnitt 2,7 Millionen Menschen arbeitslos, 59 Prozent von ihnen lebten unter der Armutsgrenze. Selbst diese Zahl wurde durch mehrere Definitionstricks nach unten reduziert, stellen Bosbach und Korff fest. Nach einer Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes vom 5. September 2013 betrug das »ungenutzte Arbeitskräftepotential« in Deutschland 6,7 Millionen Menschen. Dieses »setzt sich aus 2,3 Millionen Erwerbslosen, 1,1 Millionen Personen in stiller Reserve und insgesamt 3,3 Millionen Unterbeschäftigten zusammen«.
Während das Ziel der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit überall dort, wo die neoliberale Wirtschaftspolitik vorherrschte, ein leeres Versprechen blieb, die Lage auf dem Arbeitsmarkt sich sogar verschlechterte, wurde das Ziel der Reduzierung der Arbeitskosten vollumfänglich durchgesetzt. So wurden sinkende Lohnquoten, also ein sinkender Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen, zu einem gemeinsamen Merkmal aller kapitalistischen Staaten. Bewegten sich die Lohnquoten 1975 auf einem vergleichsweise hohen Niveau – in den USA 61 Prozent, in Deutschland 64 Prozent, in Großbritannien 66 Prozent, in Frankreich 65 Prozent und in Japan 78 Prozent –, so waren sie bis 2015 drastisch herabgesunken: in den USA auf 57 Prozent, in Deutschland auf 56 Prozent, in Großbritannien auf 57 Prozent, in Frankreich auf 58 Prozent und in Japan auf ebenfalls 58 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet sinkende Lohnquote eine entsprechend ansteigende Gewinnquote und im Klartext eine gigantische Umverteilung von der Lohn- zur Gewinnseite. Um diese Umverteilung vorstellbar werden zu lassen, sei ein Beispiel genannt: Allein im Zeitraum von 1991 bis 2012 machte die Summe, die in Deutschland den abhängig Beschäftigten aus der Tasche gezogen und den Unternehmen zugeschustert wurde, circa 15 Tausend Milliarden Euro aus. Wollte man diesen Betrag auf die OECD-Staaten im Zeitraum 1980 bis 2012 übertragen, so würde sich ein Betrag von 30,3 Tausend Milliarden US-Dollar ergeben. Das entspricht circa 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2015.
Man kann sich angesichts dieser Zahlen des Eindrucks nicht erwehren: Unter dem populären Vorwand der Schaffung neuer Arbeitsplätze erfolgte eine drastische Umverteilung der Einkommen von der Lohn- zur Kapitalseite. Mit dem Slogan, »wir leben über unsere Verhältnisse«, wurden unter dem wohlklingenden Begriff »Flexibilisierung des Arbeitsmarktes« Maßnahmen durchgeführt, die die Konkurrenz unter den abhängig Beschäftigten verschärft und die Löhne nach unten gedrückt haben. Dazu gehörten in Deutschland die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Annullierung des Flächentarifvertrages. Damit wurden Verhältnissen, die bis dato aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt waren, Tür und Tor geöffnet, die Gewerkschaften als starke Tarifpartner an den Rand gedrängt und ihrer Kampfkraft beraubt. Nicht zuletzt deshalb sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit 1960 in allen großen kapitalistischen Staaten von 20 bis 40 Prozent auf acht bis 26 Projekt im Jahr 2015. Unter diesen Bedingungen waren die Arbeitslosen dem Zwang unterworfen, jeden Job an jedem Ort und zu jedem Lohn anzunehmen. Folglich entstand fast überall ein Niedriglohnsektor und Leiharbeit mit dem Ergebnis, dass Unternehmer Tariflöhne und Arbeitsbedingungen mehr oder weniger diktieren können.
Zudem wurde in allen großen Industriestaaten seit den 1980er Jahren der Sozialabbau vorangetrieben. In Deutschland begann dieser Prozess unter der Regierung Kohl/Genscher, wurde aber in der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer im Rahmen der Agenda 2010 und der »Hartz IV«-Regelungen erst richtig ausgeweitet. Durch Maßnahmen wie die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Kürzung von Sozialleistungen, Beteiligung der Beschäftigten an Krankheitskosten und durch Rentenkürzungen, Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit und durch Befristung von Neueinstellungen wurde die soziale Sicherheit – die Maxime keynesianischer Wirtschaftspolitik – auf den Kopf gestellt. Fortan bestimmte die Angst um den sozialen Absturz die Haltung der arbeitenden Menschen. Mit Ausnahme eines exklusiven Kreises der hoch qualifizierten Beschäftigten, hat die große Mehrheit der Beschäftigten die Auffassung »Hauptsache überhaupt ein Job« verinnerlicht. Dumpinglöhne und niedrige Lohnnebenkosten wurden zur Normalität in der umgekrempelten Gesellschaft. Durch massive Reduzierung der Arbeitskosten wurden – von der oben beschriebenen Scheinvermehrung von Arbeitsplätzen einmal abgesehen – keine zusätzlichen Jobs geschaffen. Ökonomisch gesehen stellen die Ziele neue Jobs und niedrige Löhne einen Widerspruch dar. Denn die Arbeitskraft ist eine Ware wie jede andere auch. Ihr Preis ist der Lohn. Er sinkt, wenn das Angebot an Arbeitskräften deutlich größer ist als die Nachfrage nach denselben. Sinkende Löhne setzen in Wirklichkeit also eine gute Portion Sockelarbeitslosigkeit voraus. Schon aus diesem Grund war auch das 2017er Wahlversprechen der CDU/CSU, bis 2025 »Vollbeschäftigung« erreichen zu wollen, nichts anderes als Wahlpropaganda.
Das Bild von vier Dekaden neoliberaler Wirtschaftspolitik der Umverteilung von der Lohn- zur Kapitalseite lässt sich vervollständigen, wenn man einen Blick auf den globalen Finanzsektor wirft, der nahezu gleichzeitig mit der Senkung der Lohnquote in allen großen kapitalistischen Staaten entstanden ist. Denn sinkende Arbeitskosten haben den unschönen Nebeneffekt, dass die Massenkaufkraft in den Binnenmärkten schrumpft und die Investoren geradezu daran hindert, ihre zusätzlichen Gewinne in der Realwirtschaft zu investieren. Betrug das Volumen der global gehandelten Finanzprodukte 1975 ganze 8 Prozent des globalen Handelsvolumens, so stieg dieser Betrag bis 2015 auf 160 Prozent. Hatten neoliberale Regierungen und Eliten ursprünglich mehr Wachstum, blühende Landschaften und neue Arbeitsplätze versprochen, so haben sie in Wirklichkeit jedoch sinkende Arbeitskosten und einen außer Kontrolle geratenen globalen Finanzsektor geschaffen. Beides gehört tatsächlich auch zusammen. Dieser Finanzsektor ist aber unproduktiv und spekulativ, erfüllt im Grunde keinerlei allgemein nützliche Funktionen, erzeugt ständig Spekulationsblasen und Krisen wie die Finanzkrise von 2008. Er spaltet darüber hinaus auch die Gesellschaften in Arme und Superreiche. Will man weitere Finanzkrisen und schließlich eine weltpolitische Lage wie vor der ersten Weltwirtschafts- und Finanzkrise 1929 verhindern, so muss dem spekulativen Finanzsektor der Boden entzogen werden: Abschaffung der Dumpinglöhne durch eine Vollbeschäftigung, die diesen Namen verdient.
Der Autor ist Prof. i. R. für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Von ihm erschien soeben im VSA-Verlag das Buch »Braucht die Welt den Finanzsektor?«, 304 Seiten, 24,80 €.