Von Charles Maurice de Talleyrand stammt das Eingeständnis: »Mein Prinzip war immer, kein Prinzip zu haben.« Wie vorteilhaft. Doch unterscheiden sich von ihm die regierenden bundesdeutschen Spitzenpolitiker. Ein Wesensmerkmal ihrer Außenpolitik ist Prinzipienfestigkeit. In den Stürmen des internationalen Geschehens stehen sie fest und stark wie eine deutsche Eiche. Auch gegenüber geforderten und vollzogenen Sezessionen nehmen sie eine unmissverständliche, klare Haltung ein.
Der Regierungssprecher Steffen Seibert hat es unlängst im Falle der Forderung katalanischer Separatisten nach Unabhängigkeit von Madrid und staatlicher Selbständigkeit in beeindruckender Weise bestätigt. Er betonte: »Die Souveränität und territoriale Integrität Spaniens sind und bleiben unverletzlich.« Eine einseitig ausgerufene Unabhängigkeit Kataloniens verletze diese geschützten Prinzipien. Die Bundesregierung erkenne eine solche Unabhängigkeitserklärung nicht an. Und deshalb, so Seibert, unterstütze die Bundesregierung »die klare Haltung des spanischen Ministerpräsidenten zur Gewährleistung und Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung«. Der noch amtierende Außenminister Sigmar Gabriel blies in das gleiche Horn und fügte hinzu: Gerade in Zeiten, in denen Europas Umfeld geprägt sei von Unruhe und Konflikten, müsse Europa Einigkeit und Stärke zeigen. »Neue Grenzen und Mauern innerhalb Europas zu ziehen, liegt nicht im Interesse der Bürger Europas.« Klarer geht es nicht.
Die gleiche oder ähnliche Haltung bezieht die Bundesregierung gegenüber den separatistischen Parteien und Bewegungen unter anderem im Baskenland, in Schottland, Nordirland, Norditalien, Südtirol, in der Ostukraine, auf Korsika und Grönland. Diese ablehnende Position hat in der bundesdeutschen Politik eine lange Tradition. Johannes Rau hat sie 1999 bei seiner Vereidigung zum Bundespräsidenten auf die kurze Formel gebracht: »Wir brauchen eine unmissverständliche Absage an alle Spielarten des Nationalismus. Nationalismus und Separatismus sind Zwillinge.«
Auch hinsichtlich der Sezession der Krim nimmt die Bundesrepublik Deutschland eine klare und eindeutige Position ein. Das sei nichts anderes als eine »völkerrechtswidrige Annexion« oder, wie die Frau Bundeskanzlerin zu sagen beliebte, eine »verbrecherische Annexion«. Prinzipien sind Prinzipien, an denen wird nicht gerüttelt! An der deutschen Haltung änderte auch die Tatsache nichts, dass sich bei einer Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent 96,77 Prozent der Krimbewohner für eine Wiedervereinigung mit Russland aussprachen.
Eine derartige prinzipienfeste Haltung muss selbstverständlich auch flexibel sein. Und Flexibilität war vonnöten als die UÇK, die tapfere und untadelige Befreiungsarmee, für die Loslösung des autonomen Kosovo-Gebietes aus der noch jugoslawischen Republik Serbien und für die staatliche Unabhängigkeit kämpfte. Zwar war die UÇK, wie der amerikanische Sonderbeauftragte für Jugoslawien, Robert Gelbard, bereits im Februar 1998 auf einer Pressekonferenz zum Abschluss eines Aufenthaltes im Kosovo feststellte, nach Einschätzung der USA »eine terroristische Organisation«, deren »Aktionen terroristisch sind«, aber ein Jahr danach galt das nicht mehr. Schließlich wehte in Jugoslawien als einzigem Land in Europa noch immer die rote Fahne. Und an der Spitze dieses Staates stand mit Slobodan Milošević ein in der »freien Welt« verteufelter Sozialist, der die territoriale Integrität gegen die terroristischen UÇK-Separatisten verteidigte. Es musste gehandelt werden, oder wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend des Überfalls es formulierte, es galt »eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen«. So flogen denn 54 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands bundesdeutsche ECR- und Recce-Tornados in der ersten Staffel der NATO-Luftarmada, die das Balkanland 78 Tage lang bombardierte und mehr Sprengstoff einsetzte als die Hitlerwehrmacht während des ganzen Zweiten Weltkrieges gegen das damalige, wesentlich größere jugoslawische Königreich.
Die schrecklichen Folgen dieser verbrecherischen Aggression sind bekannt. Serbien leidet noch immer darunter. Die Führungen von SPD, CDU und der Grünen möchten darüber liebend gern den Mantel des Schweigens ausbreiten. Aber neben den barbarischen Kriegsverbrechen bleibt auch die Tatsache, dass sie, die Separatismus und Sezession so leidenschaftlich ablehnen, diesen in Jugoslawien mit massiver militärischer Gewalt zum Siege verholfen haben.
Aber damit nicht genug. Diejenigen, die Jugoslawien überfallen und Serbien 15 Prozent seines Territoriums geraubt haben, erpressen Belgrad und fordern seit Jahren, das von ihnen okkupierte und von einer Regierung von NATO Gnaden verwaltete Kosovo als souveränen unabhängigen Staat völkerrechtlich anzuerkennen. Und so wie die bundesdeutschen Tornados bei den Luftangriffen voranflogen, so stehen die Bundesregierungen an der Spitze der EU- und NATO-Staaten, die Belgrad unter massiven Druck setzen. Der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte im August 2010 unmissverständlich, Serbien könne nur dann mit einer Aufnahme in die EU rechnen, wenn es sich mit der Unabhängigkeit des Kosovo abfindet und den Dialog nicht länger verweigert. Auch die Bundeskanzlerin stand nicht abseits. Bei ihrem Besuch Anfang September 2015 in Belgrad forderte sie die serbische Führung auf, die Grenzen mit Kosovo anzuerkennen und ernsthafte Verhandlungen mit Priština zu führen, um die Konflikte zu beenden. Und wie verhielt sich unser sozialdemokratischer Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in diesem außenpolitischen Gaunerstück? 1999 hatte er als Kanzleramtschef die Strippen für die Vorbereitung der deutschen Teilnahme an der Aggression gegen Jugoslawien und an der Abspaltung Kosovos gezogen. Neun Jahre später, im Februar 2008, teilte er als Außenminister im Bundestag mit, dass das Kabinett der Großen Koalition beschlossen habe, Kosovo als »unabhängigen Staat«– er bezeichnete das NATO- und EU-Protektorat tatsächlich als »unabhängig« – anzuerkennen. Mit seinem bekannten diplomatischen Timbre in der Stimme erklärte er: »Jetzt ist unsere Verantwortung gefordert … Es gilt, das Beste daraus zu machen. Das Beste heißt: einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, europäische Werte im Kosovo ... durchzusetzen … Ich sage auch den Verantwortlichen in Serbien: Lassen Sie uns in diesen Tagen und in der kommenden Zeit die Gespenster der Vergangenheit ruhen … Jetzt müssen wir ehrlich sein.« Ehrlich? Tatsächlich, er hat »ehrlich« gesagt. Noch einmal zurück zu Talleyrand. Er meinte, Außenpolitik sei die Kunst, »einem anderen so lange auf den Zehen zu stehen, bis dieser sich entschuldigt«. Bislang haben sich die Serben nicht für die NATO-Aggression entschuldigt.