Seine wohl berührendste Postkarte zeigt einen besorgt dreinschauenden kleinen Jungen, mit seinen Händen einen Globus umfassend, unter der Überschrift: Wir haben nur eine; seine wohl frechste ein kleines Mädchen mit Flasche und halbvollem Schnapsglas, sich die Lippen leckend, mit dem Spruch: Ich trinke Jägermeister, weil mein Dealer zur Zeit im Knast sitzt. Die Rede ist von Ernst Volland, Jahrgang 1946, der gerade einen voluminösen Querschnitt, drei Kilogramm schwer, durch sein Werk im, nomen est omen, Verlag Hirnkost publiziert hat. Immer parteilos und stets Partei ergreifend, aber im Goethe’schen Sinne oder auch im Marx’schen, nicht zu verwechseln mit jenen, die, in Parteien organisiert, angeblich die Interessen des Volkes in den Parlamenten vertreten, sie zumeist jedoch zertreten.
Der Band ist nicht chronologisch gegliedert. Am Anfang steht das Kapitel »Eingebrannte Bilder«, mit denen Volland Anfang der 1990er Jahre zu experimentieren begann. Wer die Überschrift mit Bildern assoziiert, die sich der Erinnerung des Betrachters eingebrannt haben, liegt nicht ganz falsch und doch komplett daneben. Gewiss, die meisten Bildvorlagen sind allbekannt, haben sich dem Gedächtnis eingebrannt, aber das Resultat ihrer Verarbeitung durch den Künstler ist das glatte Gegenteil – Unschärfe, übrigens das meistgebrauchte Wort in den gleich mitgelieferten und sehr kenntnisreichen Kommentaren. Kein Wunder, dass er selbst dazu sagt: »Ich lasse mich davon überraschen, was der Betrachter wahrnimmt.«
Meiner eigenen Wahrnehmung folgend, springe ich zu Kapitel 5 des Bandes, denn für die dort versammelten Buntstiftbilder gilt ebenfalls, dass sich ihre Unschärfe dem Betrachter einbrennt, beispielsweise, dem Kapitel vorangestellt, »Rote Erde. 6. August 1945«, im Original mehr als drei Quadratmeter groß. Auch so ein Widerspruch: Buntstifte gehören doch in eine mehr oder minder ungelenke Kinderhand, die maximal im DIN-A4-Format zeichnet, nicht in dem von Ölgemälden. Aber da ist er wieder, dieser aufstörende Verfremdungseffekt. Durch ihn »kriegt der ermüdete Blick wieder etwas zu tun« (Bernd Hüppauf).
Wer das seit anderthalb Jahren überstrapazierte Wort von den Fake News nicht mehr hören kann, wird sich an den in Kapitel 3 präsentierten Fakes erfreuen, mit denen Volland in den 1980er Jahren begonnen hatte, ergänzt durch – nicht gefakte – Dokumente von Gerichtsverfahren und polizeilichen Ermittlungen. Köstlich zu sehen und zu lesen sind auch die nach 2000 an Obrigkeiten in Staat und Kirche verschickten Buntstiftzeichnungen von des Künstlers Kinderhand, auf denen Gott, der Teufel und manch Anderes zu sehen ist, immer mit der besorgten Frage der Mutter oder des Vaters verbunden, ob das Kind das auch richtig sehe, und dazu die »kindgerechten« Antworten von Kardinälen, Staatssekretären und so weiter.
Den meisten Ärger handelte sich Volland mit seinen politischen Plakaten und Montagen ein (Kapitel 2), von denen gar nicht wenige die ja angeblich nicht existierenden Zensurbehörden dieses Landes beschäftigten. Welche Bedeutung das Jahr 1968 auch für ihn gehabt hat, zeigt insbesondere das »Zeichnung Karikatur Bildgeschichte« betitelte Kapitel 4, denn es beginnt mit dem 1964 einsetzenden Frühwerk, Zeichnungen und Aquarellen, in denen die Lokalkritik eine »hoffnungs- und phantasievolle Begabung« erkannte, zu denen er selbst aber wenig später konstatierte: »... ich bin unfähig, in der eingeschlagenen Richtung weiterzuarbeiten«.
Kapitel 6 handelt von (einigen) Begegnungen des Künstlers, der auch (zusammen mit Hans Krimmer) die Bildagentur »Voller Ernst« gegründet hat. Ihnen ist zu verdanken, dass der Nachlass von Jewgenij Chaldej, dem wohl bedeutendsten sowjetischen Kriegsfotografen, gerettet worden ist und nun in Berlin aufbewahrt wird, ausgerechnet in der Stadt, wo sein berühmtestes Foto entstand: Rotarmisten hissen am 2. Mai 1945 die Sowjetflagge auf dem Reichstag.
Der Band präsentiert, trotz seiner Opulenz, nur einen kleinen Ausschnitt aus Vollands Werk, das allein 65 von ihm selbst verfertigte Bücher umfasst – nicht gerechnet die zahllosen Veröffentlichungen in Form von Plakaten, Karikaturen, Aufsätzen, Reminiszenzen et cetera. Er gibt Einblicke in Leben und Werk eines selbstironischen Künstlers, dessen Vortragskunst bei der Buchvorstellung zu erleben war.
Ernst Volland: »Eingebrannte Bilder. Plakate. Cartoons. Buntstiftbilder. Fakes. Dokumente«, Hirnkost, 592 Seiten, 44 €