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Bemerkungen

Bel Ami

Das Auschwitz-Komitee in der BRD hält jährlich in Hamburg eine Veranstaltung zum Gedenken an das Pogrom vom 9./10. November 1938 ab. In diesem Jahr bildete das Protokoll der interministeriellen Konferenz im Reichsluftfahrt-ministerium vom 12. November 1938 den Hintergrund. Der Inhalt des Protokolls fand in den Nürnberger Prozessen Verwendung, dokumentierte das Schriftstück doch nicht allein die Aufarbeitung des Ereignisses durch die Nazi-Führung unter propagandistischem und ökonomischem Aspekt, sondern auch das makabre Brainstorming mit dem Ziel, den noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden das Leben zu vergällen und sie zur Auswanderung zu drängen, dabei aber zugleich durch deren Ausplünderung die materielle Basis für den geplanten Eroberungs- und Vernichtungskrieg zu vergrößern, außerdem die in Deutschland schließlich noch verbliebenen zu vernichten. (Die Ghettoisierung wurde bereits damals debattiert.) Die Folgen der von Zynismen strotzenden Konferenz (Arisierung, Deportation und so weiter) wurden bei der Veranstaltung mit anschaulichen Beispielen aus der Geschichte Hamburgs illustriert.

 

Nach der Pause fand das inzwischen traditionelle Konzert der Auschwitz-Überlebenden und Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees Esther Bejarano (93) statt, die in den letzten Jahren mit ihrer Rap-Band »Microphone Mafia« auftritt. Das Konzert endete überraschenderweise mit dem Stück »Bel ami«. Hierzu ist zu bemerken, dass es Esther Bejarano im Vernichtungslager Auschwitz gelungen war, in das »Mädchenorchester« aufgenommen zu werden und dadurch ihre Überlebenschancen zu vergrößern, nachdem sie zur Probe diesen Schlager auf dem Akkordeon vorgespielt hatte. In dem Buch »Mein Song. Texte zum Soundtrack des Lebens« (hg. von Steffen Radlmaier) hatte sie 2017 geschrieben: »Das Lied vom ›Bel Ami‹ habe ich seitdem nie mehr gespielt.« Am 5. November 2018 spielte sie es nun wieder, jetzt allerdings mit der »Microphone Mafia«.                               

 

 Lothar Zieske

 

 

Prozess um Kinderraub

In diesem Herbst musste sich der heute 85-jährige Gynäkologe Eduardo Vela vor dem Madrider Provinzgericht verantworten. Dem heute 85-Jährigen warf die Staatsanwaltshaft vor, während der Franco-Diktatur (1939–1975) am staatlich organisierten Raub von Neugeborenen beteiligt gewesen zu sein. Den Müttern wurde damals erklärt, ihr Kind sei leider tot zur Welt gekommen. Zum Beweis wurde ihnen ein totes und kaltes Baby, das vorbereitet im Kühlschrank lag, in die Arme gelegt.

 

Die Anklage stützte sich auf ein Dokument, das die Unterschrift von Vela trägt mit dem Vermerk, die damals 46 Jahre alte Frau habe eine gesunde Tochter zur Welt gebracht, was aber nicht stimmte. Die Adoptivtochter mit dem Namen Inés Madrigal Pérez hat ihre Geschichte zur Anklage gebracht. Die vermeintliche Mutter klärte Inés am 18. Geburtstag auf, dass sie ein Adoptivkind sei. Darauf entschloss sich Inés, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen. Bei den Nachforschungen half die Adoptivmutter, gab den entscheidenden Hinweis auf die Klinik »San Ramón« in Madrid.

 

Stets lagen dem Kinderraub amtliche Genehmigungen zugrunde. Aus vermeintlich moralischen Motiven wurden angeblich »sündigen und ledigen Müttern« die Babys weggenommen, damit die Kinder bei frommen Adoptiveltern eine christliche Erziehung bekämen.

 

Im Jahr 2011 erregte ein erster Babyraubprozess gegen die Nonne María Gómez Valbuena vom Orden »Töchter der Nächstenliebe von St. Vicent de Paúl« Aufmerksamkeit. Jahrzehnte hatte die Ordensschwester auf der Sozialstation des Madrider Krankenhauses »Santa Cristina« gearbeitet. Für die Anklage wurden 1072 Voruntersuchungen durchgeführt, und es gab 14 Exhumierungen. Zu einer Verurteilung der Nonne kam es nicht, da sie vor Prozessende an Herzversagen starb.

 

Nach Schätzungen von Historikern sollen in den Jahren der Franco-Diktatur bis zu 300.000 Säuglinge nach der Geburt Müttern gestohlen und an neue Eltern übergeben worden sein. Es gibt Hinweise, dass sich der Kinderraub bis zur Jahrtausendwende fortsetzte.

 

Die ersten Fälle reichen bis in das erste Bürgerkriegsjahr 1936 zurück. In den Gebieten, die nach blutigen Kämpfen unter Francos Kontrolle kamen, wurden unverheirateten Müttern und Ehefrauen der »Roten« Säuglinge geraubt mit der Lüge, sie seien gleich nach der Geburt gestorben. Nach heutigen Erkenntnissen waren an den Rauben auch Priester beteiligt. Teile der republikanischen Kräfte führten im Verteidigungskampf der Republik einen erbarmungslosen Kirchenkampf, nicht allein die Zerstörung von Kirchen gehörte dazu, sondern auch die Ermordung katholischer Geistlicher.

 

Den ideologischen Unterbau für den staatlich sanktionierten Raub lieferte der im Dienst des Militärs stehende Psychiater Antonio Vallejo Nájera (1889–1960). Er vertrat die Ansicht, dass der Marxismus eine Art »Geisteskrankheit« sei, Babys dürften keinesfalls die »Milch des Kommunismus einsaugen«. Er plädierte dafür, die Kinder der Linken dem Einfluss ihrer Eltern zu entziehen. Auf die Weise sollte die »spanische Rasse regeneriert« werden. Später spielten auch finanzielle Zuwendungen für Ärzte und Klinikchefs eine Rolle. Bereits 1985 berichtete die Tageszeitung El País über den Raub von Kindern in der Franco-Diktatur. Die Rechercheergebnisse der Zeitung hatten keine Auswirkungen. Die Behörden konnten keine Untersuchungen einleiten, da es weder Dokumente noch Zeugen gab.

 

Vor etwa zehn Jahren nahm sich Richter Baltasar Garzón der Thematik an. Der Jurist kam auf 30.000 Fälle in der Zeit vom spanischen Bürgerkrieg bis in die 1950er Jahre. Es sei ein politisch motivierter und perfekt organisierter Kinderraub gewesen. Garzón beklagte das Versagen des Staates, der noch nicht einmal bereit sei, für die Suche nach den Müttern seine Archive zu öffnen.

 

Im aktuellen Prozess gegen Eduardo Vela hatte der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von elf Jahren gefordert. Die Richter hielten die Vorwürfe in der Verhandlung für erwiesen, sprachen aber dennoch kein Urteil, da für das Gericht der Fall verjährt ist. Ob eine Straftat verjährt ist, liegt in Spanien stets im Ermessen des Gerichts. Der Anwalt der Klägerin hat Berufung am Obersten Gerichtshof in Madrid eingelegt.

 

Seit Jahren hilft in Spanien die Organisation »SOS Bebés robados« (SOS gestohlene Babys) bei der Suche nach den wahren Müttern. Nun will die Podemos-Partei im Parlament ein Gesetz einbringen, dass die Suche nach den leiblichen Eltern erleichtern soll.

 

Karl-H. Walloch

 

 

 

Journalismus im Netzzeitalter

Haben wir eine Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus? Ganz sicher gibt es im Moment eine solche. Ansonsten hätten sich rechtsradikale Parteien und Gruppierungen nicht gierig auf das Wort »Lügenpresse« gestürzt, wären Angriffe auf Journalisten durch Teilnehmer rechtsradikaler Aufmärsche nicht an der Tagesordnung. Bei den Autorinnen und Autoren des kürzlich erschienenen Sammelbandes »Wenn Maschinen Meinung machen« handelt es sich um Studierende am Institut für Journalismus in Dortmund. In den meisten Beiträgen geht es zwar nicht um die genannte Krise, sondern um die fortschreitende Digitalisierung der Medien und daraus resultierende Gefahren. Da aber gerade die AfD und andere rechtsradikale Parteien und Vereinigungen vorrangig auf Meinungsmache in der Welt der digitalen Medien setzen, ist das Buch wichtig und sollte zur Kenntnis genommen werden.

 

Kristin Häring beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem derzeitigen Glaubwürdigkeitsproblem des Journalismus. Die Autorin weist anhand von Beispielen nach, dass die Qualität und Ausgewogenheit journalistischer Arbeit in Deutschland wesentlich besser ist als häufig behauptet. Wellen der Diffamierung journalistischer Arbeit habe es seit Erfindung des Buchdrucks immer wieder gegeben – im 19. Jahrhundert betitelten konservative Medien mit dem Begriff »Lügenpresse« neu gegründete bürgerlich-liberale Blätter. Mit dem Internet sei allerdings die Diskussionskultur verroht. Kritiker journalistischer Arbeit seien zunehmend nicht mehr daran interessiert, eine Debatte zu führen, sondern würden massenhaft nicht nachprüfbare Behauptungen verbreiten.

 

David Freches thematisiert, ohne allerdings in die Tiefe zu gehen, ein ernsthaftes Qualitätsproblem im Journalismus und meint, die Mehrzahl der Medien sei nicht in der Lage, angemessen auf Provokationen zu reagieren. Begehe ein Politiker einen Tabubruch, seien ihm Schlagzeilen und Einladungen in Talkrunden sicher. Eine Strategie gezielter Provokationen habe beispielsweise Donald Trump trotz ungünstiger Startbedingungen zum Wahlsieg verholfen. Der Aufstieg der AfD sei ebenfalls einer solchen Strategie zu verdanken. Der Beitrag erschöpft sich allerdings im gutgemeinten Appell, rechten Provokateuren nicht auf den Leim zu gehen.

 

Anastasia Mehrens erläutert in ihrem hochinteressanten Beitrag die Funktionsweise von Social Bots, Robotern, die in Netzdiskussionen menschliche Teilnehmer simulieren. Wie die Autorin meint, könne ein einzelner Netzaktivist mit geringem Aufwand tausende Bots in Umlauf bringen, die sich dann mit vorprogrammierten Meinungen in Diskussionen einmischen, Gerüchte und Falschnachrichten verbreiten. Das Perfide bestehe darin, durch massenhaften Bots-Einsatz ein gesellschaftliches Klima zu simulieren, welches nicht der Realität entspricht. Auch sei es unmöglich, die Urheber von Bots wegen Beleidigung oder übler Nachrede zu belangen, da deren Identität im Regelfall nicht feststellbar ist. Es gebe zahlreiche Fakten, die darauf hindeuten, dass vor allem die AfD über ihr nahestehende Organisationen in Größenordnungen Bots in Umlauf bringt.

 

Mehrere Autorinnen und Autoren thematisieren in ihren Beiträgen die Datensammelwut großer Netzkonzerne und die Macht, die sie dadurch über die Lebensbereiche der Nutzer erhalten. Noch nie hätten so wenig Menschen eine solche Menge an Informationen über alle anderen Menschen besessen – Werke sozialkritischer Phantastik, die vor einem »Big Brother« warnten, seien von der Realität längst überholt. Auf der anderen Seite hätten Rationalisierungswellen im Printmedienbereich nicht gerade zur Verbesserung journalistischer Berichterstattung beigetragen.

 

Die Herausgeber stellen sich im Vorwort des Bandes die Frage, welche Relevanz Fakten in der digitalen Welt haben und ob man mit ihnen die Mehrheit der Menschen überhaupt noch erreichen könne. Günther Rager und Michael Steinbrecher sehen eine Gefährdung der Demokratie weniger von Seiten übermächtiger, alles kontrollierender Staatsapparate. Eine größere und durchaus reale Gefahr gehe von den gigantische Datenmengen kontrollierenden Internetkonzernen aus.                

Gerd Bedszent

 

Michael Steinbrecher/Günther Rager (Hg.): »Journalismuskrise, Social Bots und der Angriff auf die Demokratie«, Westend, 249 Seiten, 18 €

 

 

 

Pflege-Splitter

Haltung einnehmen, das gilt auch für Investoren privater Pflegeeinrichtungen: die Rendite-Erwartungshaltung.

 

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Für Pflegeheimbewohner bedeutet Eigenverantwortung übernehmen: Erhöhung ihres Eigenanteils an den Heimkosten.

 

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Der Gesundheitsminister hat schon die nächste Erhöhung des Pflegekassenbeitrages der Versicherten angekündigt. Wenn die Pflegekasse dann klingelt, ist es aber noch ein weiter Weg bis zur Lohntüte der Pflegekräfte.

 

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Da berichten Medien über verbreitetes Wundliegen, unzureichende Medikamentenversorgung, zu wenig Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. Das kann nicht sein! Die Kontrolleure der »Aufsichtsbehörde für die Berliner Pflegeeinrichtungen« stellten 2017 im ganzen Jahr bei 508 Kontrollen doch nur 66 Mängel fest. Und das bei über 300 Pflegeheimen in der gesamten Stadt.

 

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2002 wurde ein Pflegeleistungsergänzungsgesetz erlassen, 2012 ein Pflege-Neuausrichtungsgesetz, 2015 das Pflegestärkungsgesetz 1, 2017 das Pflegestärkungsgesetz 2. Nur ein Pflegenotstandsgesetz, das traut sich niemand zu erlassen.

 

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Der Personalschlüssel in Pflegeeinrichtungen muss sich nicht unbedingt nach dem für abgehalfterte Bundespräsidenten richten: 4 zu 1 (je 1 Büroleiter, Referent, Sekretärin, Kraftfahrer pro Expräsident).

 

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Milchmädchenrechnung: Gesundheitsminister Spahn meinte, wenn 100.000 Pflegekräfte drei bis vier Stunden pro Woche mehr arbeiteten, gäbe es kein Pflegeproblem mehr. – Wenn die Bundesregierung nicht im nächsten Jahr vier Milliarden zusätzlich für Bundeswehr ausgäbe, könnten – Herr Spahn rechnen Sie mal! – … zusätzliche Pflegekräfte eingestellt werden.            

Dietrich Lade

 

 

»Liebe Redaktion, vielleicht passt etwas von meinen nachstehenden Gedankensplittern in die Rubrik Bemerkungen. Mit freundlichen Grüßen Dietrich Lade«. So begann Anfang 2017 meine Zusammenarbeit mit Dietrich Lade. Seither hat er Ossietzky-Leserinnen und -Leser mit seinen »Splittern« erfreut, darunter Steuer-Splitter, Dieselabgas-Splitter, Kriegs-Splitter, Parlaments-Splitter, Finanz-Splitter. Lade griff aktuelle Themen auf und brachte prägnant Missstände auf den Punkt. Vor wenigen Wochen schickte er mir die nebenstehend abgedruckten Pflege-Splitter. Im Heft 22/2018 erschien zuletzt sein Artikel »Kalte Umschläge für geschwollene Adjektive«.

 

Lade war ein geübter Schreiber. Schon als Teenager versuchte er sich an eigenen Gedichten. Traumberuf: Schriftsteller. Nach dem Krieg absolvierte Lade zunächst eine Stellmacherlehre, als freier Mitarbeiter arbeitete er für die Hallesche Nationalzeitung, dann ging er als Volontär zur Nachrichtenagentur ADN. Schließlich bewarb er sich in Berlin auf das Inserat »Volkshochschule Mitte sucht Deutschlehrer«. In Lade schlummerten sowohl pädagogische als auch sprachanalytische Fähigkeiten. Er entwickelte eine Leidenschaft für das Erkennen von Stilblüten und sprachlichen Besonderheiten. Für die Neue Deutsche Presse schrieb er die Kolumne »Unter der Stillupe«, das Fernsehen bat ihn um Lektorate, und Lade arbeitete unter anderem für die sendereigene Betriebsakademie. Der Leserschaft von ver.di Druck+Papier war Lade durch seine beliebte Kolumne »Der Sprachwart« bekannt.

 

Anfang November starb Dietrich Lade, der von sich selbst behauptete, er habe einen »Gramma-Tick«.

 

Gute Leute mit einem Sprach-Schuss sind selten, Ossietzky trauert.

 

Katrin Kusche

 

 

 

Kenntnisreich und spannend

Peter Hacks war nie einfach. Er focht für die DDR und wurde ebenda bejubelt, aber die Stücke wurden manchmal abgesetzt. Man hielt ihn für einen Dissidenten, aber er war im Biermann-Streit auf Seiten der Befürworter des Ausschlusses, was ihm eine Million Finanzverlust gebracht haben soll. Nach großen Bühnenerfolgen wurden seine späten Stücke kaum noch gespielt. Einst in vieler Munde, wurde es später sehr ruhig um ihn. Der Kinderlose schrieb die schönsten Texte für Kinder. Neben nicht leicht verständlichen, hoch artifiziellen Gedichten verfasste er Songs für den Oktoberklub, und nach der Wende war er sich nicht zu schade, den Lesern in frechen Gedichten auszumalen, wie die Köpfe von »Krause und de Maizière ..., Thierse, Schnur und Stolpe, Gysi, Modrow, Wolf und dann« (weiter bis zu Eppelmann) von einer auf dem ehemaligen Leninplatz errichteten Guillotine rollen. Er stand »zu seinen Freunden und Ansichten. Wenn beide sich sehr voneinander entfernten, blieb er bei den Ansichten.« (Wolfgang Kohlhaase) Dennoch: mit wem hat er sich eigentlich nicht gezankt? Er war ein Dandy, ein Millionär inmitten von Antiquitäten, und er war bis zu seinem Lebensende 2003 bekennender Kommunist.

 

Ronald Weber hat zu diesem schwierigen Mann eine 600-seitige Biographie geschrieben. Er verschweigt keinen der Widersprüche, und dennoch wird das Schwierige einfach, denn Weber ist souverän. Er kennt seinen Hacks, sucht ihn zu verstehen, aber er wahrt auch Distanz. Seine Interpretationen der Stücke und Essays sind manchmal verblüffend, aber immer gediegen. Er sagt, wenn es unterschiedliche Erinnerungen der Zeitgenossen gibt und räumt auch dem »Klatsch« ein paar Spalten ein. Er ist ein bewundernswerter Biograph mit Fragen an seinen Autor, die die Jüngeren berechtigt den Alten stellen. Für alle Hacks-Fans ein Muss!   

 

Christel Berger

 

Ronald Weber: »Peter Hacks. Leben und Werk«, Eulenspiegel Verlag, 605 Seiten, 39 €

 

 

 

Aitmatows »Richtstatt«

Die blauäugige Wölfin Akbara streift ruhelos durch die kirgisische Steppe, nähert sich immer wieder den Winterquartieren der Schafzüchter und den Pferchen. Sie hat alles verloren, ihren jahrelangen treuen Gefährten Taschtschainar und, was ihre Ruhelosigkeit ins Unerträgliche steigerte, ihre drei Jungen des letzten Wurfs in ihrem ereignisreichen Wolfsleben. An allem sind Menschen schuld … Der Lebensweg der Wolfsfamilie ist eine, ja sogar die Haupthandlungslinie, die Tschingis Aitmatow in seinem letzten großen Roman »Die Richtstatt« zeichnet und in beeindruckender Weise mit den anderen scheinbar unabhängig voneinander verlaufenden Romanerzählungen verknüpft. Allem liegt ein zutiefst humanes Anliegen des Autors zugrunde: zu zeigen, wie das Leben der Menschen in und mit der Steppe, ihren Naturschönheiten, Reichtümern und grenzenlosen Weiten durch Verantwortungslosigkeit, Hass, Habgier und Bereicherungssucht mancher unerträglich wird und sich kaum zu bannende Gefahren auftun, die an den Grundfesten der Gesellschaft rütteln.

 

Der Roman erschien 1986, das heißt in der letzten »Lebensphase« der Sowjetunion, in deren geistig-kulturellem Leben Aitmatow seit seiner Erzählung »Dshamila« einen festen Platz eingenommen hatte und darüber hinaus international Achtung und Anerkennung bekam. Bereits im Jahr darauf brachte der DDR-Verlag Volk und Welt »Die Richtstatt« in Deutsch heraus, übersetzt von Charlotte Kossuth.

 

Nun also diese Ausgabe, vom Nora-Verlag besorgt. Der neue Herausgeber ist der alte: Leonhard Kossuth, natürlich schon lange nicht mehr Cheflektor für die multinationale Sowjetliteratur im legendären DDR-Verlag, den hat die »Wende« wie so vieles Wertvolle auf geistig-kulturellem Gebiet hinweggefegt. Ist es Zufall, dass die absichtsvoll geplante und realisierte Zweit-(Sonder-) Ausgabe der einzigartigen Romanübersetzung seiner Lebensgefährtin und Mitstreiterin nicht nur dem 90. Geburtstag von Tschingis Aitmatow (12. Dezember 2018) und seinem unlängst (10. Juni) zu erinnernden 10. Todestag gewidmet ist, sondern auch mit der Vollendung des 95. Lebensjahres von Leonhard Kossuth in zeitlicher Nähe steht? Ich finde – ein Glücksumstand! Dank der Kossuths sei, wie es einmal sinngemäß der Botschafter der heutigen Republik Kirgistan in Worte fasste, Aitmatow im deutschen Sprachraum heimisch geworden. Leonhard Kossuth verfolgt auch heute wachen Blicks das Geschehen in Russland und den Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion, namentlich literarische Entwicklungen; er pflegt Verbindungen zu langjährigen Freunden, deren Reihen sich freilich arg gelichtet haben. Und er meldet sich kenntnisreich und engagiert zu Wort. Man kann dies auch daran ermessen, wie beharrlich er sich, die Aktualität der von Aitmatow aufgeworfenen Probleme bedenkend, um diese Ausgabe der »Richtstatt« mühte. Die vorliegende Ausgabe ist mit einem Anhang versehen, wo der Leser unter anderem eine komplette Übersicht über alle (16) von Charlotte K. aus dem Russischen übersetzten Werke Aitmatows findet. Besonders hervorzuheben ist zudem der beigefügte Beitrag »Tschingis Aitmatow und die Wölfe«, in dem Leonhard K. unter dem Eindruck der neuerlichen Hinwendung zu dem Roman Überlegungen zum Platz der Wolfsfamilie als »literarische Personage«, als Träger einer meisterlich angelegten Handlungslinie in ihren Bezügen zu menschlichem Verhalten und Handeln unterbreitet (eine kürzere Fassung war übrigens 2017 in einer Sondernummer über Kirgisien in der in Berlin herausgegebenen Zeitschrift Wostok erschienen). In dem mir zugeeigneten Buchexemplar hat mir Leonhard K. eine bewegende Lektüre gewünscht. Ich hatte sie. Und wünsche sie meinerseits möglichst vielen (alten und neuen) Lesern der »Richtstatt«.

 

Sonja Striegnitz

 

 

Tschingis Aitmatow: »Die Richtstatt«, aus dem Russischen von Charlotte Kossuth, Nora Verlagsgemeinschaft, 402 Seiten, 29 €

 

 

 

Literatur für alle Probleme

Man will es einfach nicht glauben …, aber seit Jahren klagt der deutsche Buchhandel über sinkende Umsatzzahlen, nur bei den sogenannten Ratgebern gibt es schwarze Zahlen. Es ist eine Tatsache: Buchkäufer zieht es in Scharen zur Ratgeberliteratur, egal ob »1000 ganz legale Steuertricks« oder »Forever young«.

 

Für jedes Alltags- und Lebensproblem gibt es das passende Buch – von der Altbausanierung über Stoffwechselstörungen, Intervallfasten, Gartenpflege, Wechseljahre und Hundehaltung bis hin zum Einbruchschutz. Erziehungsratgeber sind besonders gefragt, zum Beispiel von schlafstörungsgestressten Eltern eines »Schreibabys«. Um das Thema »Lebensglück« boomt das Ratgeberangebot ebenfalls: Was brauche ich zum Glücklichsein? Oder wie wär es mit einer Checkliste für den idealen Partner?

 

Der hilfesuchende Leser erwartet ehrliche Antworten für sein Problem und hofft auf praktische Unterstützung. Und darum lässt sich ein ganzes Heer von »Positiv denken«-Beratern, Motivations-Coachs, Gesundheitsgurus und Zeitmanagementtrainern nicht zweimal bitten. Mit guten Ratschläge und Profitipps fühlen sie sich berufen, uns ein besseres Lebens- und Glücksgefühl zu schaffen.

 

Ich muss dabei immer an Bertolt Brechts »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« denken: »Ja, renn nur nach dem Glück / Doch renne nicht zu sehr! / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher.«

 

Nein, ich brauche diese schier unüberschaubare Menge von Ratgebern nicht, durch die Glücklichsein zum Zwang wird. Aber vielleicht schreibe ich einmal einen Ratgeber »Glücklich sein ohne Ratgeber«.

 

Manfred Orlick

 

 

 

»Wer war die Forelle?«

Die Frau irrt mit beiden Tellern zwischen den Tischen unter bunt gefärbten Bäumen umher. Niemand wendet den Kopf, keiner reckt den Arm oder ruft »hier«. Die einen sind satt und zufrieden, die anderen kauen noch an der Hakenberger Knackwurst. Nee, keiner war oder ist »die Forelle«. Da biegt eine Frau mittleren Alters, goldbehängt und energisch, um die Ecke des Vorbaus, baut sich vorm Tresenfenster auf und ruft dem bierzapfenden Wirt zu, dass sie hiermit die Forelle abbestelle, sie und ihr Mann warteten nicht länger, so viel Zeit hätten sie nicht, sie müssten Kraniche kucken.

 

Unschwer lässt sich erraten, dass zwischen dieser Protestantin und der Ausrufung der beiden Essen ein Zusammenhang besteht.

 

Die Fischerhütte im Linumer Teichland erfreut sich besonderer Beliebtheit im Herbst, wenn die Sonne noch wärmt und bei deren Niedergang die Kraniche einfallen. Rings um das Fachwerkhaus futtern Vogelbeobachter wie Vogelschwärme in diesem Vogelschutzgebiet nördlich Berlins. Es ist eines der größten Rastplätze in Europa. Zehntausende Kraniche und Wildgänse legen hier auf dem Flug nach Spanien einen Zwischenstopp ein. Erstens weil es hier viele Feuchtwiesen und zweitens große Maisflächen gibt. Mit beiden ist es heuer nach all der Trockenheit nicht so prächtig, doch woher sollen das die Kraniche wissen? Sie folgen einem Fahrplan.

 

Es ist auch in diesem Herbst ein beeindruckendes Schauspiel, wenn die Vögel im Keil, aus Richtung Westen kommend, mit »Trötrötrö« über die Autobahn und dann über die Landstraße fliegen, um schließlich hinter einer Baumwand aus Pappeln niederzugehen. An der Straße stehen staunend die Massen und schauen den Vögeln nach. Mit bloßem Auge oder teurem technischen Equipment. Denn näher als dreihundert Meter lassen die scheuen Vögel niemanden an sich heran.

 

Das abendliche Naturschauspiel lockt immer mehr Städter nach Linum, und wie an den Nummernschildern zu erkennen, kommen sie nicht nur aus Berlin. Neben mir steht ein Auto mit einem italienischen Kennzeichen. Als wenn sie jenseits der Alpen keine Vögel hätten.

 

Sie seien nicht zum ersten Male hier, wie mir die Beifahrerin stolz versichert, und in jedem Jahr aufs Neue fasziniert.

 

Wem sage sie das, entgegne ich. Wir hätten schon mit unserem Trabant hier gestanden, als die LPG Pflanzenproduktion Linum absichtsvoll Mais anbaute. Das muss sich unter den Kranichen irgendwie herumgesprochen haben.

 

Vier landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften aus dem Oberen Rhinluch schlossen sich inzwischen zu einer Gemeinschaft zusammen, die etwa zweieinhalbtausend Hektar unterm Pflug hat. Sie steht zu ihren Wurzeln: Auf der Website zeigt die Rhinmilch GmbH selbstbewusst ein buntes Plakat aus fernen Tagen: »Werktätige Einzelbauern: Werdet Mitglieder der LPG«.

Was baut sie alljährlich auf tausend Hektar an?

Die Lieblingsspeise der Kraniche: Mais ...

Und die Forelle? Sie wurde dann doch noch gnädig angenommen. Der Wirt konnte der Frau überzeugend vermitteln, dass die Kraniche stundenlang einflögen und sie nichts verpasse, wenn sie fünfzehn Minuten später ihren Beobachtungsplatz an der Landstraße beziehe.

 

Wenn sie denn dort noch einen Platz findet. Das aber sagte er ihr nicht. 

Frank Schumann