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Ein Beitrag zum Tag der Studenten  (Renate Hennecke)

Was der 9. November als »Tag des Mauerfalls« für die Deutschen ist der 17. November als »Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie« für die Tschechen. Das Datum steht heute für den Beginn der »Samtenen Revolution« 1989, für die Rückkehr zum kapitalistischen System. Jedoch hat der 17. November, ebenso wie der 9. November bei uns, eine längere Geschichte. In der sozialistischen Tschechoslowakei wurde der 17. als »Internationaler Tag der Studenten« begangen. Als solcher wurde er im Jahr 1941 vom International Students‘ Council mit Sitz in London proklamiert – in Erinnerung an die Geschehnisse, die sich zwei Jahre zuvor, am 17. November 1939, in Prag abgespielt hatten.

 

Bekanntlich wurde die »Rest-Tschechei« – das, was von der Ersten Tschechoslowakischen Republik nach der Annexion der Grenzgebiete Böhmens und Mährens durch das Deutsche Reich (1938) und der Umwandlung der Slowakei in einen separaten Vasallenstaat von Hitlers Gnaden noch übrig geblieben war – am 15. März 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Böhmen und Mähren wurden zum deutschen Protektorat erklärt. Am 28. Oktober 1939, dem 21. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung von 1918, demonstrierten im ganzen Land Tausende Tschechen gegen die Besatzung. Da die tschechische Polizei nicht einschritt, schossen in Prag deutsche Zivilpolizisten wahllos in die Menge. Fünfzehn Demonstranten wurden durch die Schüsse verletzt, ein junger Bäcker getötet. Am 11. November erlag auch der Medizinstudent Jan Opletal seinen Verletzungen. Dreitausend Studenten nahmen am 16. November an einer Trauerfeier für Opletal teil, und eine große Menge begleitete den Sarg zum Bahnhof, von wo die Leiche in die mährische Heimat überführt werden sollte. Als die tschechoslowakische Nationalhymne angestimmt wurde, kam es zu Tumulten. Neun angebliche Rädelsführer wurden verhaftet und noch an demselben Tag ohne Gerichtsverfahren erschossen. In der Nacht zum 17. November wurden bei Razzien in den Studentenwohnheimen fast 2000 Studenten verhaftet; 1200 wurden am nächsten Tag in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Alle tschechischen Hochschulen wurden geschlossen.

 

Karel S. Mervart will nach England

Ob der Chemie-Student Karel Svatopluk Mervart, dessen weiteren Weg wir hier verfolgen wollen, an den Demonstrationen teilnahm, ist nicht überliefert. Es ist aber sehr wahrscheinlich. Schon sein Vater hatte während des Ersten Weltkriegs, als das Gebiet der späteren Tschechoslowakei noch zum Habsburgerreich gehörte, als Angehöriger einer tschechoslowakischen »Legion« auf der russischen Seite für die Unabhängigkeit gekämpft. Infolgedessen wurde Karel selbst am 12. Juli 1918 in Petrograd, dem späteren Leningrad, geboren. Später war der Vater mit der jungen Familie in die nunmehr unabhängige Tschechoslowakei zurückgekehrt. Karel hatte das russische Gymnasium in Prag besucht, bevor er sein Studium an der Technischen Hochschule aufnahm.

 

Nach der Schließung der Hochschulen fand Mervart eine Zeitlang Arbeit als Telegrafist bei der Verwaltung der Böhmisch-Mährischen Eisenbahn. Irgendwann kam er nach Berlin zu der Firma Leicher Chemische Gravuren – unklar ist, ob er sich selbst dazu meldete oder ob er zwangsrekrutiert wurde. Ab Februar 1943 hatte er eine Stelle als Chemielaborant und Dolmetscher – außer Russisch und Tschechisch sprach Mervart auch Deutsch – bei der Leicher-Filiale in München. Von hier aus versuchte er, in die Schweiz und nach England zu gelangen, um sich der tschechoslowakischen Auslandsarmee anzuschließen. In der Nähe der Grenze wurde er jedoch gefasst. Da er die Ermittler im Bregenzer Gefängnis überzeugen konnte, dass er sich nur bei einem Ausflug verlaufen habe, wurde er freigelassen.

 

 

Illegale Arbeit in München

Wenig später findet Mervart eine Möglichkeit, in München am Kampf gegen die Besatzer seiner Heimat teilzunehmen. Im August 1943 wird er Mitglied einer illegalen Organisation, die einige Monate zuvor im Kriegsgefangenenlager an der Münchner Schwanseestraße von sowjetischen Offizieren gegründet worden ist. Sie heißt Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (russisch: Bratskoje Sotrudnitschestwo Wojennoplennych, BSW) und organisiert Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen unabhängig von ihrer Nationalität. Das Programm der BSW ist ganz auf die Situation im Sommer 1943 zugeschnitten: Millionen deutscher Männer und Frauen sind zum Kriegsdienst eingezogen. Die Kriegswirtschaft wird durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter/innen aufrechterhalten, Menschen, die allen Grund haben, die Nazis zu hassen. Zudem hat die Wehrmacht im Osten vernichtende Niederlagen erlitten. Stalingrad markiert die Wende des Krieges. Die USA und Großbritannien haben die mehrfach verschobene zweite Front im Westen für den Herbst 1943 angekündigt. Die BSW will im Innern eine dritte Front aufbauen. Sie will diejenigen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter/innen organisieren, die mutig genug sind, um die deutsche Kriegswirtschaft zu sabotieren und einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Der soll mit der zweiten Front koordiniert und gemeinsam mit deutschen Antifaschisten durchgeführt werden. (Zur BSW siehe auch Ossietzky 19/2014.)

 

 

Rasche Verbreitung und ein Kampfbündnis

Die BSW hat seit ihrer Gründung im Frühjahr 1943 schon in mehr als einem Dutzend Lagern in München Mitglieder gewonnen. Kontakte bestehen auch zu Gefangenen in dem großen Kriegsgefangenenlager bei Moosburg und zu zahlreichen weiteren Lagern in ganz Süddeutschland. Bei den häufigen Verlegungen nehmen die Mitglieder das Programm der BSW mit. So wird die Geheimorganisation bis nach Hamburg, Weimar und Erfurt bekannt. Mervart kann weitere Verbindungen herstellen, nach Innsbruck und Wien, nach Prag und sogar zu den jugoslawischen Partisanen. Um reisen zu können, entwendet er bei der Firma Leicher Urlaubsscheine, die er auf sich selbst ausstellt.

 

Im Oktober 1943 schließen die Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen und die Antinazistische Deutsche Volksfront (ADV) um die Münchner Antifaschisten Karl Zimmet, Georg Jahres, Rupert Huber und das Ehepaar Emma und Hans Hutzelmann ein Kampfbündnis. Karel Mervart fungiert als Verbindungsmann und Dolmetscher. Man trifft sich regelmäßig, hört heimlich Radio Moskau, entwirft Flugzettel, sammelt Waffen und verhilft Gefangenen zur Flucht. Ganz konkret werden schon Aufgaben verteilt, die zu Beginn des erwarteten Aufstands zu erfüllen sind.

 

 

Eine »unerwartete und schwierige Lage«

Strikte Disziplin und konspiratives Verhalten ist oberstes Gebot für alle Beteiligten. Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass die Geheimorganisation über längere Zeit geheim bleiben kann. Aber der Plan geht davon aus, dass schon bald Schluss sein wird mit der Nazi-Herrschaft. Die erneute Verschiebung der Westfront und das Ausbleiben des Aufstands der deutschen Bevölkerung versetzt die BSW-Kämpfer in eine »für sie unerwartete und schwierige Lage ..., da sie sich darauf orientiert hatten, ihre Befreiungsaktionen mit denen des deutschen Volkes zu vereinigen«. So der sowjetische Historiker Josef A. Brodski in seinem Buch »Die Lebenden kämpfen – Die Organisation Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (BSW)«.

 

Am 4. Juni 1943 wird bei der »Ostarbeiterin« Valentina Bondarenko ein Schreiben gefunden, »aus dem hervorging, daß unter den im Reich in Arbeit eingesetzten Ausländern eine Geheimorganisation besteht« (Bericht des Münchner Gestapo-Chefs Schäfer). Bei den Vernehmungen wird Bondarenko gefoltert, doch sie schweigt eisern. Sie wird nach Auschwitz deportiert (und dort Ende Januar 1945 von der Roten Armee befreit). Erst im November 1943 gelingt es der Gestapo, einen Spitzel in die BSW einzuschleusen. Im Dezember beginnen die Verhaftungen. In seinem Bericht über die Aufdeckung der BSW nennt Schäfer die Gruppe eine »Geheimorganisation, die sicher in naher Zukunft ein für das Deutsche Reich gefährliches Ausmaß angenommen hätte«.

 

Insgesamt werden 1943/44 unter der Beschuldigung, sich für die BSW »bolschewistisch betätigt« zu haben, 383 Personen verhaftet, darunter 19 Frauen. Die meisten von ihnen werden ohne Gerichtsverfahren umgebracht. Am 4. September 1944 werden im KZ Dachau 92 sowjetische Offiziere aus der Leitung der BSW erschossen. In Mauthausen sterben im Herbst 1944 weitere 50. In Flossenbürg werden 49 BSW-Kämpfer ermordet: »russische kriegsgefangene Offiziere aus München, die in einem großen Werk gearbeitet und dessen Sprengung vorbereitet hatten« (Brodski).

 

Die Kämpfer der ADV werden am 5. Januar 1944, Karel Mervart zehn Tage später, am 15. Januar 1944 verhaftet. Der 27-jährige Tscheche gehört zu der Gruppe der Hauptangeklagten, gegen die ein Hochverratsprozess vor dem Volksgerichtshof eingeleitet wird. Genau ein Jahr nach seiner Verhaftung und knapp vier Monate vor der Befreiung, am 15. Januar 1945, stirbt Karel Mervart, zusammen mit Hans Hutzelmann und Rupert Huber von der ADV, im Zuchthaus Brandenburg-Görden unter dem Fallbeil.

Heute ist der 17. November, der Internationale Tag der Studenten. Ich dachte, es wäre ein guter Tag, um an den tschechischen Freiheitskämpfer Karel Svatopluk Mervart und seine Mitkämpfer/innen zu erinnern.