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Titel2408

Es gibt keine militärische Lösung  (Matin Baraki)

Die NATO unter Federführung der USA favorisiert eine »militärische Lösung« des Afghanistan-Konflikts. »Ein schlichtes ›weiter so‹«, stellte Peter Münch in der Süddeutschen Zeitung fest, »ist das Motto aller bisherigen Afghanistan-Konferenzen gewesen, unabhängig davon, ob sie im Rahmen der NATO, der Europäischen Union, der G-8-Staaten oder der internationalen Geberstaaten stattgefunden haben. Das zeigt sich auch am Ausbau der militärischen Präsenz der NATO. Von Februar 2005 bis Dezember 2007, also innerhalb von weniger als drei Jahren, erhöhte die Allianz ihre Truppenstärke aufs Fünffache, das waren rund 42.000 Mann; jetzt führen nach offiziellen Angaben 54.000 NATO-Soldaten Krieg am Hindukusch. Tatsächlich sind es noch erheblich mehr, darunter seit Sommer diesen Jahres 42.000 aus den USA. Präsident Bush hat die Entsendung von bis zu 10.000 weiteren US-Soldaten angekündigt. Frankreich hat im Moment etwa 1.600 Soldaten eingesetzt. Präsident Sarkozy will diese Zahl verdoppeln. Die Bundesrepublik Deutschland will ihre Truppen von 3.500 auf 4.500 verstärken. Hinzuzurechnen sind kleinere Kontingente aus anderen Ländern sowie 140.000 – unterschiedlich ausgebildete und einsatzfähige – afghanische Soldaten und Polizisten.

Die NATO hat jedoch ein Problem damit, die Bürger ihrer Mitgliedsstaaten vom Sinn dieses Abenteuers zu überzeugen. In Deutschland sind nur 17 Prozent der Bevölkerung für den Militäreinsatz. 68 Prozent der Franzosen lehnen eine Truppenverstärkung ab. Der französische Parlamentsabgeordnete Jean-Louis Bianco nannte ein starkes Motiv: »Es ist zu befürchten, daß wir uns auf ein neues Vietnam einlassen.« Auch in den Armeen wächst der Unmut. Von 261 Offizieren der niederländischen Armee sieht die Hälfte ihren Afghanistan-Einsatz nicht als sinnvoll an. Bundeswehroffiziere haben sich versetzen lassen, um nicht in den Afghanistankrieg geschickt zu werden.

Durch die massive Militärpräsenz der NATO schwindet das ohnehin ramponierte Ansehen des afghanischen Präsidenten Karsai in der Bevölkerung. Er ist dermaßen in Bedrängnis geraten, daß er schon vor einem Jahr öffentlich Skepsis gegenüber der Entsendung weiterer Truppen nach Afghanistan geäußert hat.

Der Unmut der Bevölkerungen der NATO-Länder nimmt auch deswegen zu, weil der Krieg immense Summen absorbiert – zu Lasten der Sozial-, Gesundheits- und Bildungsetats. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat errechnet, daß der Krieg schon bis Anfang dieses Jahres sechs Billionen Dollar gekostet hat und daß die USA im Jahre 2017 eine Billion Dollar Zinsen für Kriegskredite zu zahlen haben werden. So haben USA und NATO handfeste Gründe, jetzt auf die »Afghanisierung« des Krieges zu dringen – ähnlich wie in der Schlußphase des Krieges gegen Vietnam. Der ISAF-Befehlshaber in Kabul, US-General McNeill, meint, daß die afghanische Armee »im Jahre 2011 schon einen großen Teil der Aufgaben übernehmen kann«. Dann würden Afghanen Afghanen umbringen, und die Besatzer würden von ihren sicheren Stützpunkten aus die Entwicklung beobachten.

Solange die nationale Souveränität Afghanistans nicht wiederhergestellt ist, wird es am Hindukusch keine Ruhe geben. Der Afghanistan-Konflikt ist militärisch nicht zu lösen. Das sollten aus historischer Erfahrung vor allem die Briten wissen, die das Land im 19. Jahrhundert zweimal besetzt hatten; im 20. Jahrhundert gelang es auch den Sowjets nicht, obwohl sie zeitweilig 120.000 Soldaten einsetzten.

Afghanistan ist doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland und topographisch sehr vielgestaltig. Um das ganze Land besetzen können, wären vielleicht 500.000 Soldaten erforderlich. Damit wäre aber kein Frieden erreicht, sondern ein Krieg auf höherer Eskalationsstufe – mit noch höheren Opferzahlen und weiterer Verheerung des Landes. Die Karsai-Administration würde jede Chance verlieren, von der Bevölkerung, namentlich von den Paschtunen im Süden und Osten des Landes, die hauptsächlich vom Krieg betroffen sind, als legitime Regierung anerkannt zu werden. Nach deutlicher als bisher würde sie als Marionettenregime des Westens angesehen werden. Die Intensivierung des Krieges bewirkt wachsende Solidarität mit dem Widerstand – auch bei Stammesführern, die anfangs bei der Vertreibung der Taliban mit den Besatzern zusammengearbeitet hatten.

Zur Befriedung Afghanistans brauchen wir Afghanen eine wirklich repräsentative Regierung, die in Afghanistan gebildet werden müßte, nicht irgendwo im Ausland. Wir brauchen kein »zweites Petersberg«, wie von westlichen Politikern vorgeschlagen, sondern ein »erstes Afghanistan«. Unter strengster Aufsicht nicht nur durch die kriegführenden Staaten, sondern die 118 blockfreien Staaten, die aus 57 Mitgliedern bestehende Konferenz der Islamischen Staaten, die internationalen Gewerkschaften wie auch Friedens-, Frauen- und Studentenorganisationen sollte eine Loya Djirga gewählt werden, und diese repräsentative Versammlung hätte dann die Aufgabe, eine provisorische Regierung sowie Kommissionen zur Ausarbeitung der Verfassung, des Parteien- und des Wahlgesetzes zu wählen. Eine vom Volk gewählte Regierung hätte im Lande wenig zu befürchten. Falls dennoch für kurze Zeit militärischer Schutz aus dem Ausland benötigt würde, sollten ihn ausschließlich solche Staaten leisten, die dem Land nahestehen, also namentlich die blockfreien und die islamischen. Dagegen wäre auch kein Widerstand der Islamisten zu befürchten, denn Afghanistan wäre dann nicht mehr von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt.

Die Fortsetzung des Krieges aber würde die gesamte Region destabilisieren, vor allem das Nachbarland Pakistan mit seinen mächtigen islamistischen Parteien und seinem atomar bewaffneten Streitkräften; infolge des Afghanistan-Konflikts steht es schon jetzt am Rande eines Bürgerkriegs. Mögliche Folgen wären eine Machtübernahme der Islamisten in Pakistan oder gar ein Auseinanderbrechen des Landes, woraus weitere Gefahren für die Region und den Weltfrieden erwachsen können. Ein Krieg zwischen den verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan würde höchstwahrscheinlich auch andere Atommächte einbeziehen. Wenn sich die Besatzungsmächte in Afghanistan diese Gefahren bewußt machen würden, dürften sie zu keinem anderen Schluß gelangen als diesem: Krieg und Besatzung in Afghanistan bedingungslos zu beenden.

Die Besatzungsmächte sprechen gern von ihrer Hilfe zum Wiederaufbau, wovon bisher wenig zu sehen ist. Vordringlich wäre die Räumung des Landes von mehr als 30.000 Minen. Nach Angaben von medico international ist das ganze Land »mit Bomblets der von den USA eingesetzten Streubomben übersät«, deren Blindgängerquote etwa 50 Prozent beträgt – eine ständige Bedrohung der Zivilbevölkerung.

Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen Strukturen und der Hinwendung zur Zusammenarbeit mit den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan. Als US- oder NATO-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn Aussicht auf Frieden und gedeihenden Wohlstand.

Der afghanische Wissenschaftler Matin Baraki lebt in Marburg. Über Einzelheiten neuer gefährlicher NATO-Konzepte für den Afghanistankrieg informiert der folgende Beitrag von Jürgen Wagner. Der Autor arbeitet bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.