Hurra, die Rezession ist da!
Hurra, die Rezession ist da. Die gefühlte wirtschaftliche Situation und das von den Medien vermittelte Bild sind endlich wieder im Gleichklang. Ich konnte die vorhergehenden Siegesmeldungen von der Wirtschaftsfront einfach nicht mehr ertragen. »Jobwunder« und »sinkende Arbeitslosigkeit« wirken deprimierend, wenn man selbst und die Menschen um einen nichts davon verspüren. Das hat etwas vom horrifizierten einstmals real existierenden Sozialismus an sich: Im Parteiblatt liest man von der zigsten Planübererfüllung, während die Schaufenster verdächtig leer sind und sich vor den Läden lange Schlangen bilden. Nun ist die Wirtschaftsflaute da, im real existierenden Kapitalismus. Ob mich der Widerspruch zwischen leerem Geldbeutel und prallvollen Schaufenstern vielleicht noch mehr zermürbt?
Stefan Hug
Vorbilder – für wen und für was?
Wir brauchen die Reichen als Vorbilder im Land, sagt Finanzminister Steinbrück. In Johann-Günther Königs Buch »Was hat das Große Geld mit uns vor?« lese ich dieses Zitat und gerate ins Nachfragen: Vorbilder für was? Fürs Prassen? Fürs Verschwenden? Fürs Ausbeuten? Für Menschenschinderei? Fürs Korrumpieren der Volksvertreter? Fürs Steuerhinterziehen? Fürs Profitieren an Zwangsarbeit und Krieg? An welchen der deutschen Milliardäre mag der Bundesfinanzminister und stellvertretende SPD-Vorsitzende Steinbrück gedacht haben? Gibt es einen einzigen, der von einem sozialen und demokratischen Standpunkt aus als Vorbild taugte? Oder ist vom heutigen sozialdemokratischen Standpunkt aus jeder Milliardär ein Vorbild? Wahrscheinlich ist das, was Steinbrück da gesagt hat, nichts als Anschleimerei ans Großkapital.
König – einer der wenigen im Land, die seit Jahren verläßlich über politisch-ökonomische Zusammenhänge aufklären – zeigt in seinem Buch, wie deutsche Politiker dem Großen Geld geholfen haben und weiter helfen, noch größer und mächtiger zu werden, und wie sich dadurch die Armut im Lande ausbreitet, und er läßt uns ahnen, zu welchen Verheerungen die Reichen auf ihrer Jagd nach Höchstprofiten noch fähig wären, wenn wir sie weiter jagen lassen. Daß der nächste Crash bevorstehe, war schon 2006 in Veröffentlichungen des Internationalen Währungsfonds zu lesen, nachdem 2005 täglich auf den Weltfinanzmärkten »Werte« in Höhe von 7,8 Billionen Dollar umgeschlagen worden waren – das 56fache des Bruttoinlandsproduktes aller Industrieländer. Einer der weltweit erfolgreichsten Spekulanten, George Soros, hatte immer schon vor der Illusion gewarnt, Märkte regulierten sich selbst. Daß solche Warnungen nicht verfangen konnten, wird uns nicht verwundern, wenn wir bei König erfahren, welche Deutschen in Beiräten großer Spekulantengesellschaften sitzen: Theo Waigel, Rudolf Scharping, Florian Gerster, Volker Rühe und so weiter.
Als vielbeachtetes Vorbild deutscher Manager nennt König den weltweit größten Arbeitgeber, WalMart: Die Eigentümer des Konzerns, die Waltons, »halten obere Plätze auf den Milliardärslisten, während ihre kraß unterbezahlten Angestellten zum Überleben auf Lebensmittelmarken und andere staatlichen Hilfen angewiesen sind«. Ein Vorbild für die Barbarisierung der Gesellschaft.
Schade nur, daß König das Lesen durch unverständlichen Wechsel zwischen Präsens und Imperfekt erschwert. Seine Empfehlungen gegen das immer weitere Auseinanderdriften von Arm und Reich sind alle gut und richtig, aber vor der wichtigsten macht er Halt: einer radikalen Vollbeschäftigungspolitik. Wie lange noch wird
Ossietzky mit dieser Empfehlung allein gelassen werden? Als wäre bei uns nicht möglich, was jetzt in Venezuela eingeführt wird: der Sechs-Stunden-Tag. Besser noch wäre für uns die Vier-Tage-Woche mit sieben Stunden Arbeit pro Tag – entsprechend den Fortschritten der Technik und der Arbeitsproduktivität. So kann und muß den Großen Geld eins seiner schlimmsten Züchtigungsmittel entwunden werden: die Massenarbeitslosigkeit.
Eckart Spoo
Johann-Günther König: »Was hat das Große Geld mit uns vor«?, Patmos Verlag, 189 Seiten, 19.90 Euro
Das Zentrum
Als ich nach dem »Gespräch« im »Job-Center« gehen will, sagt der »Fallmanager« durchaus nicht unfreundlich, daß er mich hier nicht mehr sehen will.
Ich lese von José Saramago »Das Zentrum«. Was ist ein Zentrum, frage ich mich? Im Roman, der mich zuerst an Kafkas »Schloß« erinnert, dann auch an den »Prozeß«, ist es eine Zusammenballung von Macht. Denjenigen, die nicht am Zentrum teilhaben können, fehlt all das, was es dort gibt.
Ein Einkaufzentrum hat alle Läden, alle Waren, alle Verkaufsjobs an sich gesogen, drum herum ist »Peripherie«, Umgebung. Die Produktion wird in ferne Länder und uneinsehbare Sphären verlagert, es bleibt der Bereich der Verteilung: Distribution und Konsumtion.
Im Roman wird einem Töpfer, einem Zulieferer des Zentrums, der Vertrag gekündigt; seine Ton-Ware entspricht nicht mehr den Vorstellungen des Zentrums und wird durch Plastik oder andere Materialien ersetzt. Er kommt auf die vielleicht rettende Idee, statt dessen Tonfiguren zu produzieren, also von der Produktion nützlichen Geschirrs zum Kunsthandwerk zu wechseln. Bei einem Gespräch mit einem Unterabteilungsleiter erklärt ihm dieser, daß die erste Lieferung seiner Figuren im Rahmen einer Umfrage unentgeltlich an bestimmte Kunden abgegeben werde, die dafür einen Katalog von Fragen beantworten sollen. Auf Grund der Antworten entscheidet dann das Zentrum, ob es die Figuren ins Sortiment übernimmt oder nicht. Der Töpfer erschrickt und fragt, ob sie ihm diese Figuren nicht bezahlen würden? Doch, beruhigt ihn der Angestellte. Dann kommen dem Töpfer diese seltsamen Gedanken: »Wenn sie dir ein Messer in den Bauch jagen, dann sollen sie zumindest so viel Anstand haben, ein Gesicht zu machen, das zu dieser mörderischen Aktion paßt, ein Gesicht, das Haß oder Wildheit verrät, ein Gesicht wahnsinniger Wut oder unmenschlicher Kälte, aber sie sollen dich um Gottes willen nicht anlächeln, während sie dir die Eingeweide zerfetzen, dich nicht auf diese grausame Art erniedrigen, dir keine falschen Hoffnungen machen, indem sie zum Beispiel sagen: Machen Sie sich keine Sorgen, das ist nicht tragisch, mit einem halben Dutzend Punkten stehen Sie wieder genauso gut da wie vorher, oder aber: Ich hoffe von ganzem Herzen, daß das Ergebnis der Umfrage günstig für Sie ausfällt, es gibt kaum etwas, was mich mehr freuen würde, glauben Sie mir.«
Auch als Arbeitsloser darf man in der Datenbank der Agentur an einer Art Umfrage teilnehmen. Man darf sein Profil ausstellen und auf Nachfrage hoffen. Da man aber, wie in jeder großen Datenbank, leicht übersehen werden kann, kommen die aktiven Bewerbungen hinzu. Für eine Bewerbung bekommt man theoretisch 5 Euro Unkostenerstattung. Dafür muß man dann aber auch eine Ablehnung oder wenigstens eine Eingangsbestätigung vorweisen. Bekommt man keine Antwort, war das in doppelter Hinsicht eine Fehlinvestition. All die freundlichen Ablehnungen, die man erhält, kommen einem wie seriell produziert vor. Als arbeitsloser Hartz-Vierer sitzt man zu Hause am Rand, die eigene Arbeitskraft ist überflüssig geworden, man wartet und wartet auf die Ergebnisse der Umfrage am Markt, ob man doch noch gebraucht wird. Alle drei Monate muß man ins Zentrum, und immer deutlicher wird, daß man in diesem »Markt« nicht mehr erwünscht ist. Auf das »Schloß« folgt der »Prozeß«. Weniger literarisch gesagt: Wenn man nicht mehr in die Produktion kommt, wird einem der Prozeß gemacht; der Rest des Lebens ist Strafe: Drangsalierung und Armut. Wer Strafe bekommt, hat sie verdient. Das ist die Logik des Prozesses.
Wolfgang Haible
José Saramago: »Das Zentrum«, Rowohlt Verlag, 395 Seiten, 9.95 €
Mein Beitrag zum Bürokratieabbau
Das kam so: Das »Fräulein«, wie es damals hieß, Anneliese Chmielecki drängte zum Film. Probeaufnahmen bestanden, erste Rolle, erster Vertrag. Frage des Regisseurs an die junge Schauspielerin: »Wie heißt Du, mein Kind?«
»Chmielecki, Anneliese.« Korrekt wird das »Ch« wie das »ch« in Drachen, das »mie« wie »mije« und »lecki« wie »letzki« gesprochen.
»Das merkt sich kein Mensch,« entschied der Regisseur. »Woher kommst Du?«
»Aus Dessau.«
»Wunderbar. Anne Dessau. Das sitzt und paßt.«
Gesagt, vollzogen. Aus Anneliese Chmielecki wurde Anne Dessau.
Die Polizei in Potsdam beurkundete den Vorgang: Vorn wurde in den Personalausweis der bürgerliche Name eingeprägt, der Künstlername zierte die Rückseite: Anne Dessau.
Dreiundfünfzig Jahre später, im Jahre 2008, wurde besagter A. D. die Handtasche gestohlen – mit allen Dokumenten, die den Nachweis ihrer Existenz beurkundeten. Zweitausfertigungen waren erforderlich. Auf zu den Ämtern.
Die Polizei stellte den Personalausweis aus, verweigerte jedoch – mit dem Hinweis auf ein neues Gesetz – den Künstlernamen.
Nach 53 Jahren wird A. D.’s Name und damit ihre künstlerische und publizistische Identität ausgelöscht.
Bücher, Filme, Hör- und Fernsehspiele, hunderte Artikel in
Die Weltbühne, Ossietzky und anderen Zeitschriften stehen in ihrem Regal, in der Stadt- und Staatsbibliothek gibt es etliche Belegexemplare, das Internet gibt Auskunft zur Person A. D., die nun aber rechtlich nicht mehr existiert. Ich kann nicht beweisen, daß ich die Urheberin bin.
Die Sparkasse könnte mir mein Geld verweigern, wäre ich dort nicht bekannt. Verlage, Honorarabteilungen von
ARD, ZDF und
RBB würden mit dem Kommentar »Empfänger unbekannt« meine Wiederholungshonorare retour geschickt bekommen, weil es Anne Dessau nicht mehr gibt.
Ich frage im Bürgeramt, auch in der Zentrale aller Bürgerämter nach: »Warum?«
»Um die Bürokratie abzubauen,« erklärt man mir.
Dafür ist wohl kein Opfer zu groß.
Anne Dessau
Inhuman
Das Fernsehen zeigte kürzlich eine Dokumentation über das Verhältnis der jüdischen Religion zur Sexualität. Darin sagte ein Rabbiner, daß die Bibel Homosexualität verbiete. Und da er offenbar ahnte, daß diese Aussage nicht ganz auf der Höhe der Zeit sei, ergänzte er: Bei ihm in der Synagoge säßen auch Homosexuelle. Die Homosexualität sei nach jüdischem Glauben eine Sünde, aber wir alle, er selbst eingeschlossen, seien schließlich auch Sünder.
Damit schien die Filmemacherin zufrieden zu sein. Nachfrage oder gar Widerspruch hielt sie nicht für nötig. Demgegenüber wäre auf dem aufklärerischen Standpunkt zu insistieren, daß jegliche Diffamierung und Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer sexuellen Gewohnheiten, ob von jüdischer, christlicher oder muslimischer Seite, inhuman ist und daß eine Schrift, die solche Ausgrenzung rechtfertigt, als Bezugspunkt für moralisches Handeln ungeeignet ist, also kritisiert werden muß.
Die Toleranz, die immer wieder lautstarke Fürsprecher findet, erstreckt sich nur von einer Religion auf die andere. Daß das Übel der Menschenverachtung in religiösen Kodices liegen könnte, darf nicht diskutiert werden. Ein diskriminierendes Dogma, das (zum Beispiel) Homosexualität als Sünde auffaßt, durch das augenzwinkernde Eingeständnis zu relativieren, daß wir ja alle Sünder seien, reicht nicht aus. Es ist das Dogma selbst, das zu bekämpfen ist. Dafür aber gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens. Die Aufklärung hat sich noch nicht durchgesetzt.
Wo finden im öffentlichen Leben, in den Medien und in den Schulen wissenschaftliches Denken, Agnostizismus und Religionskritik ein solches Podium, wie es den Religionsvertretern zugestanden wird, als wäre das göttlicher Wille? Wer schützt Atheisten vor der Beleidigung ihrer Vernunft, wie religiöse Menschen vor der Beleidigung ihrer Gefühle geschützt werden? Wer fragt Homosexuelle oder Lesben, was sie vom sexuellen Kodex von Rabbinern, Pfarrern, Nonnen und Imamen halten? Absurd? Warum eigentlich? Warum sollte das absurder sein als die Vorschriften aus uralten Büchern, die Religionsfunktionäre als verbindlich interpretieren? Warum muß mit unfreundlichen Protesten rechnen, wer die anfangs zitierte Aussage des Rabbiners ebenso wie die im Film gezeigte jüdische Hochzeit als Folklore begreift, die keine andere journalistische Behandlung erfordert als der Aberglaube von Teufelsanbetern oder die Initiationsrituale von Sekten? So, nur so ist die Aussage zu retten. Denn wer als Humanist den Begriff der Sünde so ernst nimmt, wie ihn die Religionsstifter gemeint haben, muß um so radikaler gegen jene rebellieren, die Menschen, und sei es ironisch gebrochen, zu Sündern erklären, weil sie nicht ihren Normen entsprechen.
Übrigens: Wer, wenn nicht ein Jude, sollte das wissen?
Thomas Rothschild
Aufstand in Treblinka
Richard Glazar war einer der Hauptzeugen in den Düsseldorfer Prozessen gegen die faschistischen Mörder im Vernichtungslager Treblinka. In seinen kurz nach dem 2. Weltkrieg niedergeschriebenen, jetzt erstmals veröffentlichten Erinnerungen schildert er seine Verschleppung aus dem wohlbehüteten jüdischen Elternhaus in der Tschechoslowakei, seine Ankunft hinter dem »grünen Zaun«, der das Vernichtungslager von der Umwelt abschirmte, das zufällige Überleben bei der Selektion, dann seine grausigen Erlebnisse als gezwungener Handlager des Massenmordes. Während des Häftlingsaufstandes am 2. August 1943 gelang ihm zusammen mit mehreren hundert Gefährten die Flucht. Eine Kette von Zufällen ermöglichte ihm und einem Gefährten die Annahme einer falschen Identität und damit das Überleben. Als Zwangsarbeiter in einem Rüstungsbetrieb der Nazis wurden beide von alliierten Truppen befreit.
Das Vernichtungslager war nicht nur ein Ort des massenhaften Tötens, sondern auch der massenhaften kriminellen Bereicherung. Glazar beschreibt detailliert die grausige Ökonomie des Todes: Die Häftlinge der Arbeitskommandos wurden gezwungen, die Leichen der Umgebrachten zu fleddern. An den Wertgegenständen bedienten sich ungeniert die deutsche Lagerverwaltung und ukrainische Wachleute; sie nutzten sie als Tauschobjekte für die Beschaffung zusätzlicher Lebensmittel. In sämtlichen Dörfern im Umkreis von Treblinka stiegen dadurch die Preise für Speck, Würste, Eier und Wodka in astronomische Höhe.
Glazar schildert von der Widerstandsbewegung organisierte Fluchtversuche – man wollte die Welt hinter dem »grünen Zaun« von dem permanenten Massenmord unterrichten. Einmal gelang es, zwei Häftlinge in einem Güterzug aus dem Lager zu schmuggeln. Langes Bangen – dann die erlösende Nachricht: Das Warschauer Ghetto hat sich gegen die bevorstehende Deportation erhoben. Es folgten fieberhafte Versuche des »Revolutionsausschusses«, die Häftlinge der Arbeitskommandos zu bewaffnen. Mit knappen Sätzen beschreibt Glazar, wie die Todgeweihten schließlich mit einer Handvoll Gewehre und Benzinflaschen auf ihre Mörder losgingen ...
Hannah Arendt schrieb 1944: »Was wir in unserem Kleinmut erst für einen lokalen Ausbruch der Verzweiflung zu halten geneigt waren, stellte sich bald als der Beginn einer Reihe von bewaffneten Rebellionen in den Konzentrationslagern und Ghetti heraus.«
Gerd Bedszent
Richard Glazar: »Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka«, Unrast Verlag, 199 Seiten, 20 €
Einer der Meistgehaßten
In der sozialdemokratischen Hausgeschichtsschreibung ist nur wenig über ihn zu finden, obwohl es bei ihm an Funktionen in der Partei nicht gefehlt hat: Heinrich Ströbel (1869–1944), Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstages, kurzzeitig preußischer Ministerpräsident,
Vorwärts-Redakteur und Mitbegründer der USPD. In Vergessenheit gebracht ist er, weil sich mit seiner politischen und publizistischen Tätigkeit der stetige Widerspruch gegen die sozialdemokratischen Hilfsdienste für den preußisch-deutschen Militarismus verbindet, während des Ersten Weltkrieges und dann in den Jahren der Weimarer Republik. Ströbel, kein Radikal-Linker oder Kommunist, sondern waschechter Sozialdemokrat, fand in seinem politischen Herkunftsmilieu immer weniger Gehör, wirksam wurde er in den 1920er Jahren in der Deutschen Liga für Menschenrechte und in der Deutschen Friedensgesellschaft, auch als Autor des
Anderen Deutschland, der
Weltbühne und der Zeit des Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster. Für die schwarzweißrote und braune Presse war er einer der meistgehaßten Gegner; als »politisches Ungeziefer« bezeichnete ihn 1930 die deutschnationale Zeitung
Der Tag. Ein Jahr später emigrierte Ströbel in die Schweiz. Er hatte keine Zweifel daran, daß Hitlerdeutschland den nächsten Krieg anzetteln werde.
Über diesen »abweichenden«, weil antimilitaristischen Sozialdemokraten, über den Tucholsky geschrieben hat, er sei »kein ›Taktiker‹ und kein Paktierer«, liegt nun endlich eine detaillierte politischen Biographie vor, veröffentlicht in der von Dieter Riesenberger und Wolfram Wette herausgegebenen Reihe »Geschichte & Frieden«.
Hingewiesen sei bei dieser Gelegenheit auch auf Riesenbergers im selben Verlag erschienenen Sammelband »Den Krieg überwinden« mit einer Fülle von Informationen über die historische Friedensbewegung.
Arno Klönne
Lothar Wieland: »Wieder wie 1914! Heinrich Ströbel – Biographie eines vergessenen Sozialdemokraten«, Donat Verlag, 408 Seiten, 22.80 €
Zuckerbrot und Peitsche
Die Partei, die sich etwas irreführend »Die Linke« nennt, ist erst einmal etabliert. In den Umfragewerten hat sie ihren stabilen, wenn auch bescheidenen Platz, an ihr Mitregieren in der Berliner Stadtregierung haben sich alle gewöhnt, und sie kann sich in einigen Bundesländern auf koalitionsträchtige Ergebnisse bei den nächsten Wahlen freuen. In der
Tagesschau kommen inzwischen VertreterInnen dieser Partei kurz zu Wort, wenn es um bundespolitische Entscheidungen geht, so wie ihre Kolleginnen oder Kollegen von der FDP und den Grünen. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine dürfen bei ihren Fernsehauftritten und auch in der Konzernpresse den Nachweis dafür liefern, daß es hierzulande in der veröffentlichten Meinung kontrovers zugeht.
Das ist die eine Seite des Umgangs mit »der Linken«. Die andere: Ein typisches regionales Monopolblatt wie die
Fuldaer Zeitung zitiert in ihrem Bericht über eine Kundgebung am 9. November gegen Gefahren von rechts gern die beteiligten CDU-Politiker, über die der Linkspartei schweigt sie lieber. Und die tonangebende
Frankfurter Allgemeine Zeitung läßt an ihren Foren zur bevorstehenden hessischen Landtagswahl alle derzeitigen Landtagsparteien mitwirken – außer der Linkspartei. Immer mal wieder wird diese als »SED-Nachfolgepartei« angeprangert – vor Bündnissen mit den »Kommunisten« warnt nicht nur Roland Koch. Wie paßt das zusammen?
Es paßt, denn diese Partei soll domestiziert werden – ein Erziehungsprozeß, bei dem Belohnung und Strafe gleichermaßen eingesetzt werden.
Diese Maßnahmen zeigen Wirkung. Brav hat die Partei, soweit sie beteiligt war, den Rettungspaketen für das große Kapital parlamentarisch zugestimmt. Die Gelegenheit, das weithin aufkommende Mißtrauen gegenüber den bestehenden wirtschaftlich-politischen Machtverhältnissen argumentativ auf den Punkt zu bringen, blieb ungenutzt, von einer linken Kampagne zum Thema »Finanzkapitalismus und seine Folgen« kann keine Rede sein, die linke Partei scheut davor zurück, Klasseninteressen zu identifizieren. Ihre wesentliche Schwäche liegt darin, daß sie sich nicht traut, aus der Routine des gegenwärtigen Parteien- und Parlamentsbetriebs auszubrechen, in Alternativen dazu vielleicht auch gar nicht mehr zu denken vermag. Geht das so weiter, darf sie nach einer Weile der Bewährung mit der gnädigen Aufnahme in das Parteienkartell rechnen. Den wirtschaftlich und politisch Mächtigen kann, da die Zeiten nicht rosig werden, eine Partei als Ventil für soziales Unbehagen durchaus brauchbar erscheinen, und »Die Linke« als Partei hat dann dafür zu sorgen, daß es links einigermaßen ruhig bleibt.
War’s das?
A.K.
Bittners neue Epigramme
Wolfgang Bittner, hauptsächlich durch seine Reise- und Abenteuer-Romane bekannt, pflegt seit langem auch das Epigramm. In seinen »Rechts-Sprüchen« (im
Ossietzky Verlag auf 165 Seiten gesammelt erschienen) machte der promovierte Jurist dem Rechts-Staat und der Rechtsprechung lauter kurze Prozesse. Jetzt dringt er zu den Ursachen gesellschaftlichen Unrechts vor. In seinem neuen Buch »Minima Politika« schreibt er unter der Überschrift »Enteignung«:
Die Inflationsrate
nach offiziellen Angaben:
drei Prozent.
Aber alles, was wir
tagtäglich brauchen,
ist doppelt so teuer.
Das ist eine Feststellung, wie jeder sie macht oder machen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Die schlichte Wahrheit. Ebenso »Brot und Spiele«:
Die Stadtteilbibliothek
wird geschlossen.
Das Schwimmbad
wird geschlossen.
Das Jugendzentrum
wird geschlossen.
Das Fußballstadion
wird ausgebaut.
Die gesellschaftlichen Widersprüche schreien. Da braucht Bittner keinen Sprachverstärker, keine Emotionstrommel. »Generationenverschuldung«:
Der Finanzminister sagt,
man dürfe sich nicht zu Lasten
der nächsten Generation verschulden.
Er verschuldet den Staat
nur für die Banken,
die sich verspekuliert haben.
Bittner konfrontiert uns mit der Banalität des real existierenden Kapitalismus – ohne poetische Ornamente, ohne Betulichkeit, ohne frommen Trost. Aber seine Epigramme lassen uns nach- und weiterdenken. »Alle tun was«:
Die Geheimdienste schnüffeln,
intrigieren und provozieren,
die Regierungen führen Krieg,
der Wehretat wird aufgestockt,
die Waffenindustrie profitiert,
die Sozialleistungen werden gekürzt,
die Manager fordern Bescheidenheit
und wirtschaften in die eigene Tasche,
die Justiz ist dienstbar,
die Medien beschwichtigen und lügen,
wir lamentieren und zahlen.
Bittners Epigramme brauchen keine Illustrationen, dulden keine Verzierung. Die Karikaturen von Kostas Koufogiorgos sind alles andere als schmückendes Beiwerk. Grell, kraß. Diese erschreckend expressiven Bilder sind etwas ganz Eigenes.
Ein Buch mit doppeltem Gewicht.
E. S.
Wolfgang Bittner/Kostas Koufogiorgos: »Minima Politika«, Horlemann Verlag, 126 Seiten, 12.90 Euro
Langlebiger Witz
Manche Leute halten die DDR für einen Witz der Weltgeschichte. Und wissen nichts von den Witzen zur Weltgeschichte, die in der DDR die Runde machten. Das stets proklamierte Weltniveau war in den Witzen über die DDR wahr geworden. Sie kursierten nicht nur in geschlossenen Geburtstagsgesellschaften. Sie brachten jede Betriebsfeier in Stimmung. In den Witzen aus der DDR war die ganze Wirklichkeit und Wahrheit über die DDR. Die Witze sind, in der Summe, die gescheiteste Geschichtsschreibung zur Geschichte der DDR. Sie sind zudem die knappste, vergnüglichste, unterhaltsamste Geschichtsschreibung – die nichts an Frische verloren hat. Die DDR ist noch nicht tot. Wer im Witz lebt, lebt länger. Auch nach dem Ausscheiden aus der Historie.
Bernd Heimberger
»Die besten Witze aus der DDR«, Eulenspiegel-Verlag, 128 Seiten, 4.90 €
Press-Kohl
Der Berliner Kurier erklärt dankenswerterweise die Bedeutung alter und neuer Redensarten, so auch am 21.November 2008: »Was bedeutet ...
den Löffel abgeben? In einfachen Familien gab es als einziges Besteck den Löffel, mit dem gegessen wurde. War einer gestorben, so gab er naturgemäß den Löffel ab, insbesondere dann, wenn nicht genügend Löffel im Haus waren. Dann bekam der Jüngste den Löffel.« Stimmt genau. Ich entstamme einer einfachen Familie, in der es als einziges Besteck den Löffel gab, mit dem gegessen wurde. Als unser Ururgroßpapa gestorben war, gab er naturgemäß nach seinem Tode, sozusagen posthum, den Löffel ab. Wir hatten nun zwei Löffel. Mit dem einen wurde gegessen, und den zweiten brauchte mein Onkel, wenn er meinen Vater über den Löffel »balbierte«.
*
Wie so viele speisende Menschen wollte auch ich schon immer die japanische Kochkunst erleben. Nun bietet mir der Werbezettel eines exotischen Restaurants in Berlin-Zehlendorf die große Chance: »Bei rohem Fisch können Sie die japanische Kochkunst erleben.«
Vielleicht gehört es zu den Besonderheiten der japanischen Kochkunst, daß sie ohne das lästige Kochen auskommt. Bei der Zubereitung von rohem Fisch dürfte es sich allemal erübrigen. Und auch das teure Gas für den Herd wird überflüssig.
*
Freund Achim, gesundheitsbewußt wie eh und je, entdeckte in der Werbeschrift einer Lübecker Weinhandlung die Winzerleberwurst. Diese wird, damit kein Mißverständnis aufkommt, nicht etwa aus Winzerlebern hergestellt. Dagegen hätte der Winzerschutzverein doch längst protestiert! Es handelt sich bei dieser Wurst gar nicht um eine Wurst, sondern um eine Pastete. Und »Norbert Hauck, mehrfach prämiiert und vom
Feinschmecker bereits als ›Schlachter des Jahres‹ ausgezeichnet, hat zusammen mit dem Weingut Keller eine delikate und richtig leckere Leberpastete kreiert, die mit ihrem aromatischen Geschmacksbild ihresgleichen sucht. Das Fleisch stammt von regionalen Bauern, die Pastete selbst wurde mit einer hochkarätigen Beerenauslese von Klaus Peter Keller veredelt, die eine feinfruchtige und zart süßliche Textur in den mundfüllenden Geschmack hineinzaubert.«
Sollte Ihnen der Winzerleberwurst-Geschmack trotz seiner zart süßlichen Textur nicht mundfüllend genug sein, so legen sie die Zahnfüllungen beiseite, um Weinhändler Tesdorpfs »Sequillo« zu bestellen, »der einen intensiven und hochinteressanten Duftstrauß von Pflaumen, Vanille, dunklen Beeren und feinen Gewürzen preisgibt. Mit einem rundum harmonischen Geschmack betritt er den Gaumen, die Gerbstoffe sind hintergründig und ebenso wie der Alkohol perfekt eingebunden, um einen schönen Abgang mit anhaltender Glut zu hinterlassen.« Auf Wunsch werden Ihnen die Gerbstoffe ebenso wie der Alkohol nicht nur perfekt, sondern zusätzlich auch in Ganzleinen eingebunden.
Felix Mantel