Harmlose Gemüter, bis weit in die Linke hinein, sahen mit dem Crash im Finanzmarkt den Zusammenbruch jener Ideologie gekommen, die – ungenau – »Neoliberalismus« genannt wird. Damit irrten sie. Aus den Feuilletons der tonangebenden Konzernblätter erschallt immer lauter das Begehren nach Abschaffung der Sozialstaatsidee. Die sozialdarwinistische Richtung unter »Neoliberalen« tritt radikaler auf als bisher, angetrieben durch einen Essay des philosophischen Erfolgsautors Peter Sloterdijk, der vom »Steuerstaat« Abschied zu nehmen empfahl, weil darin »die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben«. Thilo Sarrazin leistete Schützenhilfe und fand viel Beifall. Seitdem vergeht kein Tag, an dem sich nicht ein neuer Ankläger des »Sozialparasitentums« zu Wort meldet.
Mit persönlicher Betroffenheit prangerte der Ästhetikprofessor Karl Heinz Bohrer den »verkommenden Sozialstaat« an, weil dieser »die gezielte Bestrafung« erfolgreicher Individuen betreibe und ihn wie viele andere »um die Pfründe wohlverdienten finanziellen Zugewinns« bringe. Neid stecke hinter einer staatlichen Umverteilungspolitik (gemeint ist die von oben nach unten), sekundierte Soziologieprofessor Franz Kromka; die »Fixierung auf Umverteilung und Gleichheit« führe dahin, daß »die produktiven Kräfte gelähmt« seien. »Betreutenmentaliät« sei »der Tod von Mut und Initiative des Einzelnen«, »erlernte Hilflosigkeit«, ergänzte Norbert Bolz, Professor für Medienwissenschaft. Man könne »den Schwachen nicht stärken, indem man die Starken schwächt«.
Eine diskurspolitische Offensive ist angelaufen, gegen jede soziale Regulierung der »Marktwirtschaft«, für das Recht der Stärkeren. Der profane Hintergrund dieser Agitation ist zu erkennen: Profitmacherei braucht zunehmend Stütze aus der Staatskasse, darum muß per »Schuldenbremse« am »Sozialklimbim« gekürzt werden. Das Prekariat soll doch sehen, wie es überlebt – die Leistungsträger wollen mehr Netto vom Brutto.
In solchen Zeiten sind Meinungsmacher besonders gefragt, die eine Bekehrung hinter sich haben, vom linksrevoluzzernden Saulus zum kapitalfrommen Paulus. Thomas Schmid, einst »revolutionärer Kämpfer«, jetzt Chefideologe im Springer-Konzern, rühmt Sloterdijk als einen, »der ein kühnes Stück wagt und selbst die großen Sicherheiten, die als unverrückbar galten, infrage stellt«. Und Franz Sommerfeld, ehemals Redakteur beim Marxistischen Studentenbund Spartakus, jetzt Vordenker der DuMont-Tagespresse, schreibt über den Sloterdijk-Diskurs: »Der Geist der Zeit sendet neue Signale. Es wäre fatal, sie nicht empfangen zu wollen«. Friede den Palästen, Krieg den Hütten.