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Titel2409

Die Kampfbereitschaft wächst  (Werner René Schwab)

Das wäre mein Wunsch: Wissenschaftler, Parteipolitiker und nicht zuletzt führende Gewerkschafter lesen den Einleitungsartikel (»Die Arbeitszeitfrage drängt«) im vorigen Ossietzky-Heft, denken darüber nach und stellen fest, daß hier ebenso knapp wie unwiderleglich der Ausweg aus der Misere der Massenarbeitslosigkeit gezeigt wird. Und dann sorgen sie gemeinsam für das Notwendige: eine kräftige Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, damit alle Menschen in Würde leben können, ohne Angst vor Verelendung, ohne Zwang vor Kriecherei vor den Chefs. Wie könnte sich ein vernünftiger und wohlmeinender Mensch diesem Wunsch verschließen!

Aber nein, sie werden mir diesen Wunsch nicht erfüllen. Sie – jedenfalls die meisten von ihnen – werden den Artikel gar nicht erst lesen. Würden sie ihn lesen, dann müßten sie ihn schnell beiseite legen und dürften keine Sekunde lang darüber nachdenken und keinesfalls zu dem Ergebnis kommen, daß sie im Sinne dieses Artikels tätig werden müßten. Sie können nicht anders, als sich davor verschließen – aus einem einzigen Grund: Wir leben im Kapitalismus, und das Kapital zieht Profit aus der Massenarbeitslosigkeit. Die Großaktionäre der großen Konzerne haben darüber, was vernünftig ist, ganz andere Ansichten als ich, denn sie haben gegenteilige Interessen. Es stört sie nicht, wenn jetzt zum Beispiel das IfO-Institut meldet, daß sowohl die Arbeitslosenzahlen als auch die Unternehmensgewinne gestiegen sind. Für sie sind beide Nachrichten erfreulich.

Die Gewerkschaften müßten um die Vier-Tage- und 28-Stunden-Woche kämpfen. Aber vielen führenden Gewerkschaftern ist Kampf ein Greuel, vielmehr rühmen sie sich – wie der kürzlich abgetretene langjährige Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Hubertus Schmoldt, und sein Nachfolger Michael Vassiliadis –, sie seien allzeit »auf Konsens ausgerichtet«. Immerzu legen sie Bekenntnisse zur angeblich sozialen Marktwirtschaft ab und nehmen es hin, daß die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, daß die Bildungschancen der Arbeiter- und Angestelltenkinder sinken, daß sich eine Zwei-Klassen-Medizin durchsetzt und daß sich die Aussichten auf eine auskömmliche Versorgung im Alter verschlechtern.

Solche Gewerkschafter dürfen sich gelegentlich lobender Reden des Bundespräsidenten erfreuen. Oder sogar des Arbeitgeber-Präsidenten Dieter Hundt, der neulich in der Walter-Eucken-Schule in Freiburg, wo künftige Manager ausgebildet werden, die Parole ausgab, Arbeit und Kapital seien längst ausgesöhnt. In der gleichen Rede erhob er weitere Machtansprüche: Der Kündigungsschutz müsse verkürzt, die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängert und keinesfalls dürfe ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden.

Daß die Unternehmer und ihre Repräsentanten die gewohnten Attacken gegen »Betonköpfe« und den »Gewerkschaftsstaat« eingestellt haben, hat seinen Grund vor allem in ihrem Gespür dafür, daß die Kampfbereitschaft der abhängig Beschäftigten und von Entlassung Bedrohten gewachsen ist und weiter wächst, wie viele spontane Aktionen zeigen. Die Chancen, in den stetigen Verteilungskämpfen etwas zu erreichen, stehen gegenwärtig nicht schlecht. Jetzt käme es auf Funktionäre an, die die neuen Kräfte fördern und bündeln. Gerade um das zu verhindern, wickeln die Herren des Großen Geldes sie in warme Lobreden ein. Wenn sich führende Gewerkschafter weiterhin darauf beschränken, gelegentlich »Auswüchse« des kapitalistischen Systems zu beklagen, bleibt nichts, als den Druck von unten zu verstärken. Artikel, die dazu beitragen können, müssen vor allem unter denen verbreitet werden, die dadurch für die tagtäglichen Auseinandersetzungen mit dem Kapital gestärkt werden können.