Selbstsicher und feierlich präsentierte Präsident Dmitri Medwedew seine Jahresbotschaft. Er sprach vor Hundertschaften selbstsicherer und feierlich gekleideter Abgeordneter, Minister, Gouverneure, Geistlicher, hoher Richter und Generale. Auch eine Handvoll Millionäre und Milliardäre wohnte der Zeremonie bei. Unsere Elite also. Unsere Obrigkeit. Unser Schicksal.
Nach der Veranstaltung priesen viele von ihnen vor den Fernsehkameras die Sachlichkeit und den Ideenreichtum des Staatsoberhaupts. Doch wenn sich das Publikum an frühere Jahre erinnert hätte, wäre ihm die Melodie bekannt vorkommen – wie aus einer Musikbox. Nur wurden die Botschaften damals von anderen Präsidenten verkündet.
Oppositionellen Journalisten stellten eine berechtigte Frage: An wen eigentlich appellierte Medwedew? An die im Kreml versammelten Bonzen, die ihre Gleichgültigkeit nur mit Mühe verbergen konnten (auf dem Bildschirm war das deutlich zu erkennen), oder an die Nation?
Die Kollegen von Nowaja Gaseta verfolgten zeitgleich mit der Direktübertragung aus dem Kreml eine andere Botschaft im Internet. Dort konnte jeder Dampf ablassen. Als erste erschien Antonina Lossewa von der Bürgeraktion der betrogenen Investoren aus der Stadt Schtscherbinka, einen Katzensprung von Moskau entfernt. Man sah die Frau in einem von vielen nicht fertiggebauten Wohnhäusern. Hundertmal, sagte sie, hätten sich die Betroffenen bei allen erdenklichen Instanzen beschwert, Medwedews Präsidialamt eingeschlossen. Die Menge der Briefe könne man nur noch nach Kilogramm messen, und der Inhalt sei immer der gleiche gewesen: Die Baulöwen hätten Geld kassiert, seien verschwunden und hätten halbfertige Häuser hintergelassen. Lossewa an Medwedew wörtlich: »Der Große Vaterländische Krieg dauerte vier Jahre, unserer schon sieben. Wann werden wir endlich den Sieg feiern?«
Die beschriebene Situation ist für die heutigen Verhältnisse in Rußland typisch. Landesweit stehen unvollendete Wohnhäuser, mal unter Dach, mal ohne. Die Gauner, die den vertrauensvollen Käufern goldene Berge versprachen, sind selber längst über alle Bergen verschwunden. »Ich möchte ein Kind zur Welt bringen, aber ich habe keine Bleibe«; sagt ein Mädchen aus der Stadt Shelesnodoroschnyj im Großraum Moskau. »Wir bitten Sie, unser Problem zu lösen, wir haben keine Wohnung«, sagt ein Mädchen aus Rostow am Don. Dann kommt ein Mann an die Reihe: »Wir hören ununterbrochen Versprechungen. Ihr Schweigen, Herr Präsident, zwingt die Leute zu radikalen Aktionen. Wir haben nichts zu verlieren und werden bis zum Ende gehen.« Die Redner wechseln. »Anderthalb Milliarden Rubel wurden in das Siedlungsprojekt eingezahlt, ausgegeben wurden nur 400 Millionen. Viele künftige Wohnungen sind doppelt verkauft worden. Wir sind Geiseln der Baumafia.«
Das gesetzestreue betrogene intelligente Rußland beschwert sich bei dem Garanten der Verfassung. Im Unterschied zur Beamtenschaft und zu sonstigen Machtträgern haben die Betroffenen keine Schmiergelder bekommen, niemanden erpreßt, keine Etatmittel zweckentfremdet, kein Staatseigentum geplündert. Auf ehrliche Weise haben sie die nötigen Summen zusammengekratzt, manchmal zu diesem Zweck ihre alten Wohnungen verkauft. Und nun sind die meisten schamlos betrogen. In vielen Fällen handeln die Ganoven unter den unsichtbaren Schutz der Machthabenden, die ihre Dienste kaum uneigennützig zur Verfügung stellen. Weder Exekutive noch Legislative beeilen sich, die Pechvögel zu retten.
Vielleicht hält die Obrigkeit momentan den Druck im Kessel für noch nicht hoch genug. Sonst kann ich mir nicht erklären, warum sie die Geduld der Menschen immer noch weiter strapaziert.