Die Gassen zwischen den mehrgeschossigen Betonbauten im Palästinenser-Lager Sabra und Shatila in Beirut sind so eng, daß kaum Licht in die Elendsbehausung fällt. Bräche ein Brand aus, käme kein Feuerwehrauto durch. Libanesische Polizei betritt den Lagerbereich grundsätzlich nicht. Seit vielen Jahren weist die Regierung auch Roma und gestrandete Familien anderer Nationalitäten in das Lager ein. Für die Sicherheit sollen die Palästinenser selber sorgen.
Wasserleitungen sind leck und werden offenbar nicht repariert. In den Gassen stehen Pfützen; man muß sich vorsehen, nichgt in Schlamm zu treten.
Ich blicke in einzelne Zimmer und empfinde das blanke Grauen. Kinder sitzen apathisch im Dunkel. Keine Möbel, nichts, nur verschmierte Wände.
Irgendwo im Gassengewirr stehen kaputte Gefriertruhen. Jugendliche machen sich daran zu schaffen. Sie hämmern darauf. Plastikteile fliegen herum. Offenbar ist das eine Möglichkeit, mit Wut und Frust umzugehen.
Sabra und Shatila ist der Ort des Massakers von 1982, als chrstliche Milizen mehr als 1000 Zivilisten ermordeten – mit Rückendeckung der israelischen Armee, in Anwesenheit des damaligen Verteidigungsministers Ariel Sharon. Auf großen, mehrere Meter langen Transparenten am Eingang des Lagers sind Aufnahmen von damals zu sehen.
In einer kleinen selbstgebauten Hütte lebt hier in der Gedenkstätte ein Mann Mitte 50, der in dem Massaker mehr als 30 nahe Angehörige verlor, darunter seine Eltern und Geschwister. Er will für immer an diesem Ort bleiben, um den Ermordeten nahe zu sein.
Sabra und Shatila ist eins von zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon. Während der »ethnischen Säuberung Palästinas« (so der Titel des Buches, in dem der israelische Autor Ilan Pappe dieses Geschehen schildert) flohen 1947/48 rund 100.000 Palästinenser ins nördliche Nachbarland. Bis heute ist die Zahl der amtlich registrierten Flüchtlinge auf mehr als 400.000 gewachsen.
Einer von ihnen ist Rechtsanwalt Souheil El-Natour. Wie er berichtet, halten sich inzwischen 100.000 Palästinenser aus den libanesischen Lagern in den Golfstaaten auf, weil sie im Libanon offiziell nicht arbeiten dürfen. Von Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aus versorgen sie Familienangehörige in den Lagern. Etwa ebenso viele versuchen das Gleiche von Europa oder den USA aus.
Im Libanon dürfen Palästinenser seit 60 Jahren kein Eigentum erwerben, und ihnen ist – bis auf wenige Christen – die libanesische Staatsbürgerschaft verwehrt. Im konfessionalistischen System des Landes, das von der Staatsspitze bis in die niedrigsten Verwaltungsämter alle Posten nach dem Schema Christ (Staatspräsident), Sunnit (Ministerpräsident) und Schiit (Parlamentspräsident) verteilt, würde sich durch Einbürgerung der palästinensischen Flüchtlinge die Zahl der Muslime um zehn Prozent erhöhen; das ist vor allem bei den Christen unerwünscht. Weil sie in den meisten Berufen nicht legal arbeiten dürfen, werden Flüchtlinge als billige Arbeitskraftreserve illegal zum Beispiel in Krankenhäusern beschäftigt, sogar als Ärzte, aber sie erhalten nur einen kleinen Teil des Gehaltes, das ein libanesischer Arzt verdient.
Während in Sabra und Shatila ein großes Portrait des Gründers der schiitischen Amal- (Hoffnung) Bewegung die Besucher des Lagers begrüßt, hängen am Eingang des Lagers Mar Elias Foto-Plakate von Yassir Arafat und Sami Kuntar, der 1979 als Jugendlicher nach einer Kommandoaktion in Israel, bei der mehrere Israelis getötet worden waren, fast drei Jahrzehnte in israelischer Haft verbrachte. Um ihn im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freizupressen, ließ der Chef der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, im Grenzgebiet zwei israelische Soldaten entführen. Die israelische Regierung nahm das im Sommer 2006 zum Anlaß, einen schon länger vorbereiteten 33-Tage-Krieg zu beginnen, der auf libanesischer Seite 1.200 und auf israelischer 160 Tote forderte.
Mir begegnet ein junger Mann, der seit einigen Jahren in Berlin lebt, Regelmäßig besucht er seine Familie im Lager Mar Elias. Auf meine Frage, was er sich von Deutschland wünscht, antwortet er: »Daß in den Medien die Palästinenser im Libanon nicht immer als Terroristen, sondern stärker als Opfer dargestellt werden.«
Als Oasen der Hoffnung erlebe ich die Einrichtungen der Organisation »Beit Atfal Assuimoud« (Haus der standhaften Kinder). Ihr langjähriger Leiter Kassem Aina erzählt von der Arbeit. Zwei Jahre alt war er, als er aus seiner palästinensischen Heimat vertrieben wurde. Seit 61 Jahren lebt er jetzt unter Flüchtlingen. Mit seiner Organisation hat er Sozialzentren in den Lagern eingerichtet, in denen Nachhilfe-, Förder- und Berufsbildungskurse angeboten werden. Durch den Verkauf von Stickereien können Frauen etwas Geld verdienen. Ein Fonds hilft in medizinischen Notfällen. Unterstützt wird diese Arbeit aus Deutschland von dem Verein »Flüchtlingskinder im Libanon« (www.lib-hilfe.de), der mit einer hervorragend gestalteten Nakba- (Katastrophe) Ausstellung auch auf die Ursachen des palästinensischen Flüchtlingselends hinweist.
Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes