Der jüngste Transport von »Castor«-Behältern mit hochradioaktiven Abfällen aus Frankreich ins Wendland hat zweierlei gezeigt: auf der einen Seite eine zunehmende Bereitschaft vieler Menschen, sich gegen den Atomstaat zu wehren, auf der anderen Seite eine zunehmende Bereitschaft des Staates, die Repressionsschraube anzuziehen, um der aufbegehrenden Bevölkerung Herr zu bleiben.
Die Atompolitik der Bundesregierung, vor allem die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken, hat offenkundig zu einem Wiederaufleben der Anti-AKW-Bewegung geführt. Bis zu 50.000 Teilnehmer an den Protesten – so viele waren es schon lange nicht mehr; und es ist ein großer Erfolg der Bewegung, daß sie sich nicht spalten läßt, sondern solidarisch zusammenhält und vielfältige Aktionsformen akzeptiert.
Die Behörden haben immer wieder versucht, den Widerstand zu kriminalisieren. Der Bild-Zeitung wurde im Oktober ein Bericht des Bundeskriminalamtes zugespielt, in dem »neue bürgerkriegsähnliche Schlachten« angekündigt wurden. »Militante Gruppen erhalten den Erkenntnissen zufolge zunehmend Unterstützung auch aus Bürgerinitiativen sowie aus den Reihen von Parteien und Gewerkschaften«, zitierte das Springer-Blatt. Im Unterschied zu Bild war es dem Parlament nicht erlaubt, das vollständige Papier einzusehen: Eine Anfrage der Linksfraktion wurde mit dem Hinweis abgeschmettert, es enthalte geheimhaltungsbedürftige Hinweise auf die polizeiliche Einsatzplanung. Der einzige konkrete Hinweis, der die Militanz-Warnungen untermauern sollte, war der Aufruf »Castor schottern!« zum Herausnehmen von Steinen aus dem Gleisbett, um die Bahnstrecken im Wendland für den Castor-Transport untauglich zu machen. Nach dem Verständnis der Staatsanwaltschaften war das ein Aufruf zu einer Straftat. Gegen Unterzeichner wurden Ermittlungen eingeleitet. Aber auch dieser Versuch, die Bewegung zu spalten, ging daneben. Am Schottern mag sich zwar nicht jede und nicht jeder beteiligen, aber es wird als gewaltfreie und zulässige Aktionsform akzeptiert, genauso wie Sitzblockaden, Baumbesetzungen und Kundgebungen.
Als Anmelderin des Camps Köhlingen habe ich mich während der Protesttage an etlichen Orten im Wendland aufgehalten und konnte dort das solidarische Zusammenhalten beobachten. Besonders beeindruckend waren für mich die Straßenblockaden der Bauern mit ihren Treckern – voller Entschlossenheit, Demonstranten, aber keine Polizisten durchzulassen.
Ich konnte mich allerdings auch mit eigenen Augen davon überzeugen, daß die Polizei ihren Frust an Demonstranten ausließ. Die Szenen, wie man sie auch auf youtube sehen kann, waren fast immer gleich: Die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen Gleisblockierer und Schotterer vor. Die Demonstranten warfen die Schottersteine nicht zur Gegenwehr in Richtung Polizei, sondern blieben friedlich und ließen die Provokationsversuche ins Leere laufen. Die Polizei setzte massiv Pfefferspray ein – eine Waffe, die tödlich wirken kann. Dabei wäre es um ein Haar zu einem folgenschweren »Unfall« gekommen: Einen jungen Mann, der 40 Meter von der »Castor«-Strecke entfernt auf einem Baum saß, schoß die Polizei mit Reizgas direkt herunter. Er landete auf dem Rücken und hatte dabei großes Glück, daß er sich nicht mehr als einen Brustwirbel brach und voraussichtlich ohne bleibenden Schaden davonkommt. Ein solches Vorgehen der Polizei ist die schiere Willkür, die mit Menschenleben spielt.
Die parlamentarische Aufarbeitung dieser Polizeiaktion begegnet intensiven Vertuschungs- und Vernebelungsbemühungen der zuständigen Behörden, die ihre Informationspflicht gegenüber Parlament und Öffentlichkeit nicht ernst nehmen. Besonders dreist agierten sie im Fall eines französischen Polizisten: Die junge Welt veröffentlichte am 10. November Fotos, die einen Angehörigen der französischen Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) zeigen, wie er gemeinsam mit deutschen Polizisten gegen Demonstranten vorgeht. Die CRS gelten in Frankreich als besonders brutal, schon seit sie 1977 bei Protesten gegen das AKW Malville Schockgranaten in die Menge schossen. Damals wurde ein Demonstrant getötet, mehreren wurden Glieder abgetrennt.
Als ich die jW-Fotos am gleichen Tag im Innenausschuß des Bundestages vorlegte, wollte keiner etwas davon wissen: Sowohl der parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium als auch der Präsident der Bundespolizei zuckten mit den Schultern. Erst einen Tag später wurde die Information nachgereicht, zwei CRS-Angehörige seien auf Einladung der Bundespolizei zum »Castor«-Transport eingeladen worden, der eine in einen polizeilichen Leitungsstab, der andere als »Beobachter« in eine Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit. Daß der Franzose zum »Beobachten« Schlagstock und Pistole dabei hatte, wurde nicht problematisiert. Inzwischen erfuhr der Innenausschuß, derartige Kooperationen seien »gelebte und ständige Übung auf europäischer Ebene«, so die Bundesregierung. Die Frage, warum weder die Führung der Bundespolizei noch die Polizeidirektion Lüneburg, die offiziell die Gesamteinsatzleitung hatte, etwas von dieser »ständigen Übung« wußten, ist noch offen. Ungeklärt ist auch die Rechtsgrundlage: Einsätze ausländischer Polizisten bedürfen eines offiziellen Ersuchens. Ein solches hat es nicht gegeben. Nun wird behauptet, der CRS-Beamte habe nur in einer »Notsituation« seinen »in Bedrängnis« geratenen deutschen Kollegen beigestanden. Die vorhandenen Fotos dokumentieren allerdings das Gegenteil: In aller Ruhe näherte sich der Polizist einem Gleisblockierer, richtete seine Handschuhe, nahm den Demonstranten in den Würgegriff und trug ihn dann gemeinsam mit einem deutschen Polizisten weg, ohne jegliche Gegenwehr und unbehelligt von anderen Demonstranten.
Offen ist auch, in welchem Umfang die Bundeswehr an der Polizeiaktion beteiligt war. Im Vorfeld war auf wiederholte Anfrage der Linksfraktion wie auch der Grünen mitgeteilt worden, die »Amtshilfe« für die Polizei beschränke sich darauf, militärische Unterkünfte und Liegenschaften zur Verfügung zu stellen. Treffen Berichte aus dem Wendland von gepanzerten Fahrzeugen und von Überflügen mit Tornados etwa nicht zu?
Die Eskalation des Polizeieinsatzes drückt sich nicht nur in der Brutalität aus, sondern auch im Instrumentarium: Das niedersächsische Innenministerium setzte erstmals bei einer Demonstration eine Überwachungsdrohne ein. Drohnen sind geeignet, Videoaufnahmen großer Menschenmengen anzufertigen und dabei auch Einzelpersonen heranzuzoomen. Solche Aufnahmen verstoßen gegen das Persönlichkeitsrecht; außerdem wird die Versammlungsfreiheit untergraben, wenn Demonstranten damit rechnen müssen, schon wegen der bloßen Teilnahme an friedlichen Protestaktionen gefilmt zu werden.
Auch der Drohnen-Einsatz wurde erst rund eine Woche nach Abschluß der Proteste eingeräumt, und wieder war dem Einsatzleiter in Lüneburg anscheinend nichts bekannt.
Soll es zu einer »ständigen Übung« werden, daß jede Polizeieinheit macht, was sie will, ohne Rücksicht auf Dienstwege, Vorschriften und Rechtsgrundlagen, nach dem Motto: Einig im Einsatz für Konzerninteressen?