Claude Angeli ist einer der beiden Chefredakteure der 1915 gegründeten satirischen Wochenzeitung Le canard enchaîné, unter der man sich weit mehr als ein politisches Witzblatt vorzustellen hat. Man muß den »Gefesselten Enterich« als eine Institution verstehen, so französisch wie Stangenweißbrot und Camembert. Verboten war er nur zwischen 1940 und 1944 unter deutscher Besatzung. Mit einer Auflage von bis zu 500.000 hat das Blatt keine finanziellen Sorgen; auf Werbeeinnahmen war es nie angewiesen. Der fast hundertjährige Erfolg ruht auf zwei Säulen: politische Satire und investigativer Journalismus. Für diesen steht seit 1971 Claude Angeli. Dem fast 80jährigen wird nachgesagt, daß er über ein riesiges Informantennetz in Regierung, Parteien, Militär und Diplomatie verfügt.
Whistleblower, wie man die Hinweisgeber aus den gesellschaftlichen Apparaten heute nennt, wenden sich vertrauensvoll an den canard, der, oft mit großem Aufwand, gegenrecherchiert. Der Leser, der Mittwoch früh seinen canard am Kiosk kauft, kann also sicher sein, daß die brisanten Informationen (meist auf Seite 3) auf Tatsachen beruhen.
Die V. Republik mit ihrer Präsidialdemokratie ist für eine solche Zeitung ein Glücksfall. Vor allem wenn die Wahlmonarchen über ein ausgeprägtes Ego verfügen, profitiert der publizistische Hofnarr. Der canard hatte seine höchsten Auflagen unter de Gaulle, Giscard d’Estaing und … Nicolas Sarkozy. Doch anders als de Gaulle, der zwar Machtmensch, ansonsten aber untadeliger Asket war, und als Giscard, der sich in Affären verstrickte, die Presse aber mit aristokratischer Gelassenheit betrachtete, nimmt der skandalträchtige Egozentiker Sarkozy übel. Und hier wird es für Journalisten, die nicht die übliche Hofberichterstattung zelebrieren, gefährlich. Zwar sind fast alle Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten in den Händen enger Freunde des Präsidenten, aber wie bei Asterix gibt es noch kleine Widerstandsnester, die den Zorn des derzeitigen Hausherrn im Elysée-Palast erregen. Sarkozys gestörtes Verhältnis zu Medien war sogar schon Thema eines Buches (»Cartes sur table« von Olivier und Patrice Duhamel). Daß die Presse im Fokus des Inlandsgeheimdienstes steht, konnte man zumindest vermuten, als Anfang Oktober bei drei verschiedenen Zeitungen eingebrochen wurde. Die Täter nahmen Computer und CDs mit, aber merkwürdigerweise nur von Journalisten, die mit der Spendenaffäre Woerth/Bettencourt befaßt waren.
Aber auch im Geheimdienst scheint es Menschen zu geben, denen solche Praktiken zuwider sind. Am 3. November erschien der canard mit der Schlagzeile: »Sarko überwacht das Ausspionieren von Journalisten«. Claude Angeli schrieb: »Sowie sich ein Journalist einer Recherche widmet, die für Sarkozy oder seine Freunde unangenehm ist, bittet der Präsident zumindest seit Beginn dieses Jahres Bernard Squarcini, den Chef des Inlandsgeheimdienstes (DCRI), sich um diesen Störenfried zu kümmern. Also ihn zu überwachen, seine Kontakte zu erfassen und vor allem seine Informanten.« Der Geheimdienst soll sogar eine Spezialeinheit aufgestellt haben, die nur die Aufgabe hat, die Quellen bestimmter Journalisten aufzuspüren. Die Methode besteht vor allem darin, die Telefonrechnungen der Journalisten zu durchforschen, um Informanten zu identifizieren. »Die Telefongesellschaften arbeiten da sehr gut mit uns zusammen«, versicherte ein Informant aus dem Geheimdienst.
Es verwundert nicht, daß der canard enchaîné das Hauptziel der geheimdienstlichen Maßnahmen ist. Kein Geringerer als Außenminister Bernard Kouchner reichte Klage gegen Unbekannt ein, um die Informanten aufzuspüren, die dem canard die abrupte Ausladung des Außenministers durch die israelische Regierung zusteckten, als dieser den Gazastreifen besuchen wollte. Angeli: »Da wurden etliche Mitarbeiter des Quai d’Orsay«, also des Außenministeriums, »zur Zentrale der DCRI bestellt.«
Die Afghanistan-Politik der Sarkozy-Regierung scheint auch in den Reihen der französischen Militärführung und des Auswärtigen Dienstes nicht nur Befürworter zu haben. Nahezu wöchentlich zitiert Angeli in seiner Kolumne Diplomaten und Militärs, die freimütig über Vorgänge berichten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Nicht selten werden sogar Kopien interner Schreiben beigefügt, die offiziellen optimistischen Berichten Hohn sprechen. Man kann sich also vorstellen, daß Präsident und Regierung alles daran setzen, diese Lecks ausfindig zu machen, um sie zu schließen.
Da der canard im Besitz der Belegschaft ist und man keinen wirtschaftlichen Druck auf ihn ausüben kann, bleiben nur publizistische Attacken in der Rechtspresse und Verleumdungsklagen. Letztere können jedoch meist abgewehrt werden, da das Blatt über ein solides Finanzpolster verfügt und sich gute Anwälte leisten kann.
Schon im Dezember 1973, als die Redaktion in ein anderes Gebäude umzog, überraschte der Karikaturist André Escaro die Techniker des Geheimdienstes dabei, wie sie in den neuen Räumen Mikrofone installierten. Der Skandal schlug hohe Wellen, die Auflage stieg auf über eine Million, zwei Monate später wurde Innenminister Marcellin zum Landwirtschaftsminister degradiert. Noch heute kann man in den Redaktionsräumen die Löcher bewundern, welche die staatlichen »Klempner« hinterließen.
Die Konformität der französischen Medien ist die Marktlücke für den canard enchaîné. Wo scheinbar seriöse Blätter Selbstzensur üben oder gleich der präsidialen Pracht huldigen, nimmt das »journal satirique« des Claude Angeli die Funktion der 4. Gewalt wahr. Eine besonders enge Leser-Blatt-Bindung ist die Grundlage dafür, daß der Käufer dieser Acht-Seiten-Zeitung mit niveauvoller Satire und knallharten Informationen beliefert wird. Schon früher haben sich die Redakteure des canard über angepaßte Kollegen bei anderen Medien lustig gemacht, und seit den 1950er Jahren steht unter dem Titel der abgewandelte Werbespruch für Batterien, die sich nur verbrauchen, wenn man sie benutzt: »Die Pressefreiheit nutzt sich nur ab, wenn man sie nicht nutzt.«
Angelis journalistische Laufbahn begann der Anfang der 1960er Jahre in der Redaktion von Avant-Garde, der Zeitung der kommunistischen Jugend. Nachdem er 1964 aus der KP ausgeschlossen worden war, ging er zum Nouvel Observateur. 1970 arbeitete er für Politique hebdo, gegründet von Paul Noirot, einem ehemaligen Buchenwald-Häftling, der ebenfalls die KP verlassen mußte. Bevor Angeli ein Jahr später zum canard stieß, hatte sich das Satireblatt nur wenig mit der Offenlegung von Skandalen beschäftigt. 1970 berichtete es über eine Kommode im Elyséepalast, deren technisches Innenleben das Abhören sämtlicher Räume gestattete. Mit Angelis Eintritt in die Redaktion gewann der investigative Journalismus immer mehr an Bedeutung. Am 3. November 1971 wurden Auszüge aus der Steuererklärung von Premierminister Chaban-Delmas veröffentlicht, aus denen hervorging, daß der Politiker vier Jahre lang keine Steuern gezahlt hatte.
Heute informiert das Wochenblatt fast in jeder Ausgabe über nationale und regionale Skandale in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Daneben findet man auch Äußerungen von Politikern, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind und eindeutig aus deren Entourage kolportiert werden. Seit dem Amtsantritt Sarkozys plaudert der canard gern Wutausbrüche bei Sitzungen des Ministerrates aus, belustigt sich und die Leser aber auch über den Hang des Präsidenten, sich selbst um Banalitäten wie die Fäkalienentsorgung des Sommersitzes seiner Frau Carla Bruni in Cap Nègre zu kümmern. Die in Europa einzigartige Satirezeitung leidet also weder an Themen- noch an Lesermangel, und Claude Angeli ist zu wünschen, daß er den 100. Geburtstag seiner Zeitung in guter Gesundheit feiern kann.