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Titel2411

Verachtung der Massen  (Joachim Maiworm)

Nach den letzten Ausschreitungen in britischen Städten läßt sich bilanzieren: Die konservativ-liberale Regierung, der Staatsapparat, die Machteliten insgesamt haben sich erstaunlich leicht aus der Affäre gezogen und die soziale Krise für ihre Zwecke nutzen können. Sie haben einen Gegenschlag geführt und ihre Positionen auf allen Ebenen – Exekutive, Judikative, Legislative und Mediendiskurs – verstärkt: mit erweiterten Polizeibefugnissen, Klassenjustiz, sozialen Einschnitten und massiver Hetze. Die Akteure der Aufstände, vor allem Jugendliche aus den verarmten Stadtvierteln von London, Birmingham, Bristol und anderen Großstädten wurden von Politikern und Medien als asozialer Pöbel verspottet und als »wilde Bestien« beschimpft. Der wohlkalkulierte Effekt der Regierenden: Nach Umfragen stimmt eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Aufrüstung des Repressionsapparats zur Niederhaltung der angeblich Recht und Ordnung zersetzenden Bevölkerungsgruppen – eine günstige Vorlage für die politischen Hardliner, um ihre Waffen gegen eskalierende soziale Proteste, vor allem auch gegen die organisierten Widerstände aus Studentenschaft und Gewerkschaften, in Stellung zu bringen. Die Idee des »Class War« hat wieder Konjunktur.

In ihrem Wahlkampf im vergangenen Jahr operierten die Torys mit dem Schreckbild des »Broken Britain«. David Cameron: »Why is our society broken? … Because government got too big, did too much and undermined responsibility.« Am Tag nach Beendigung der Riots beschwor der Premier vor dem Unterhaus erneut das Bild der zerbrochenen Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage sei, ihren Kindern den Unterschied zwischen Richtig und Falsch beizubringen. Gewalt, wie man sie bei den viertägigen Ausschreitungen erlebt habe, sei nicht ein Armuts-, sondern ein Kulturproblem.

Diese Argumentation war nicht neu. Schon nach den Septemberanschlägen 2001 in den USA wurde die Forderung nach einem genuin britischen Wertekanon immer wieder mit der Frage nach innerer Sicherheit verknüpft. Und im Februar 2011 sagte Cameron auf der Münchner Sicherheitskonferenz: »Frankly, we need a lot less of the passive tolerance of recent years and much more active, muscular liberalism.«

Aber der »muscular liberalism« ist keine Erfindung der konservativ-liberalen Regierung in Westminster. Schon der New-Labour-Kurs folgte dem Soziologen Anthony Giddens, der auf eine intervenierende, die »underclass« aktiv lenkende »Politik der Lebensführung« drang. Auch in Deutschland wird seit sechs, sieben Jahren über den Umgang mit einer sich neu etablierenden sogenannten Unterschicht debattiert, zumeist polemisch. Der Begriff steht für die Behauptung, daß sich am unteren Rand der Gesellschaft Lebensstile der Gleichgültigkeit und Verwahrlosung herausbilden, die sich gegen bürgerliche Normen richten – mit der Folge einer wachsenden gesellschaftlichen Spaltung. Im Unterschied zu materialistischen Konzepten der Klassenanalyse wird hier kulturalistisch argumentiert, die bestehenden sozialen Ungleichheiten bleiben ausgeblendet: Kultur und Lebensstil der Unterschichten hätten sich in weiten Bereichen von der ökonomischen Basis entkoppelt und ließen sich längst nicht mehr mit materiellen Notlagen erklären. Die Unterschichten müßten dazu gebracht werden, ihre unzivilisierte Lebensführung wieder der bürgerlichen Leitkultur anzupassen. Verantwortlich für die Gewaltaktionen, so Cameron, sei ein »moralischer Zusammenbruch in Zeitlupe« als Resultat von »Kindern ohne Väter, Schulen ohne Disziplin und Belohnungen ohne Anstrengung«.

Die rechte Tageszeitung Daily Mail bescheinigte den Aufständischen fehlenden Integrationswillen, sie seien unerziehbar und nicht einzugliedern.

»We’re talking about a wolfpack of feral inner-city waifs and strays who spend their time smoking dope, drinking lager and playing Grand Theft Auto on their stolen PlayStations«, so der Starkolumnist des Boulevardblatts, Richard Littlejohn, über die Akteure der Ausschreitungen. Die Gewaltbereiten sind demnach nutzlos, leben parasitär und gebärden sich zugleich als wilde Bestien. Für jede Interpretation wird ein passendes Bild geliefert. Die Metaphern des »Wilden« (»feral«) und des »Heimat- und Obdachlosen« (»waifs and strays«) durchzog auffällig häufig die Kommentare in den Medien und prägten die Äußerungen der Politiker als unmittelbare Reaktion auf die Gewaltaktionen.

Menschen als Wölfe, als »das Andere« der Zivilisation: Ein Hinterbänkler der Labour Party meinte dazu sarkastisch, es gebe Leute, »die eine geradezu physische Angst bei der Vorstellung empfinden, dieses klotzige, mit Goldkettchen und Brillis behängte Lumpenproletariat könnte eines Tages ihre Haustür eintreten und ihr Au-Pair-Mädchen auffressen«, wie Owen Jones kürzlich in Le Monde diplomatique zitierte.

Die vier Gewaltnächte im Land haben vor allem Politiker und Kolumnisten der Yellow Press angetrieben, die Stigmatisierung der Akteure als verkommenes Subproletariat zu forcieren. Der Gewerkschafter Owen Jones beschreibt in seinem Buch »Chavs«, wie zunehmend statt positiver Darstellungen von ArbeiterInnen und Erwerbslosen in den Medien die Karikatur von verblödeten Loosern oder »Prolls« Raum greift. Der Begriff »Chav« macht seit etwa sieben oder acht Jahren die Runde und läßt sich auf »chaavi« (das Roma-Wort für »Kind«) zurückführen. Er hat bereits Eingang in Wörterbücher gefunden und wird dort übersetzt mit »eine jugendliche Person aus der Arbeiterklasse, die legere Sportkleidung trägt.« Synonyme in Deutschland sind: »Asis«, »Hartzer«, »Prolls«.

Die als »Chavs« bezeichnete Bevölkerungsgruppe dient der politischen Klasse als Stereotyp zur gezielten Spaltung der von Kürzungsbeschlüssen betroffenen breiten Bevölkerungskreise. Die Mittelklasse malt sich ein passendes Bild der Jugendlichen aus der sogenannten Unterschicht: Sie sind dumm, gewaltbereit und ohne Ehrgeiz zum sozialen Aufstieg. Abgrenzungsmerkmale werden konstruiert, die Angst vor einer »Invasion« des Unterschicht-Pöbels in die zivilisierten Kreise ist unübersehbar.

»We’re all middle class now« war eine rhetorische Kampfansage bereits von New Labour an die Unterschicht, die offenkundig nicht in das »Wir« eingeschlossen wurde. Ob Konservative oder Labour – die beiden großen Parteien in Großbritannien vertreten gleichermaßen eine aggressive Politik aus der »Mitte« gegen »die da unten«. Dieser gesteuerte gesellschaftliche Diskurs schuf in den vergangenen Jahren eine Atmosphäre, in der die Selbstwahrnehmung einer respektablen Arbeiterklasse in dem Maße verschwand, wie das allgemeine Streben, der Mittelklasse angehören zu wollen, zunahm.

Alle wollen Mittelschicht sein – wer da nicht mitspielen will oder kann, ist Unterschicht oder droht ganz aus der Gesellschaft herauszufallen. Owen Jones berichtet, daß sich heute immer weniger Personen zur Arbeiterklasse bekennen. Laut Umfragen zählen sich inzwischen schon mehr als 70 Prozent der Menschen in Großbritannien zur Mittelschicht, so viele wie nie zuvor. Vor dreißig Jahren erklärte Maggie Thatcher noch die kämpferischen und klassenbewußten Bergarbeiter zum »inneren Feind«, den es zu bekämpften galt. Heute ist der Pöbel der »enemy within«, gegen den alle »Anständigen« in Stellung gebracht werden sollen – plus Polizei und Militär.