1789 war für das Bürgertum das Jahr der Befreiung. Die Vorrechte des Adels wurden abgeschafft, die Bourgeoisie eroberte mit Hilfe der verarmten Massen unter dem Schlachtruf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Macht. Selbstverständlich gab es unter Napoleon und dem restaurativen Wiener Kongreß Rückschläge, aber der Siegeszug der Bürgerklasse war nicht mehr aufzuhalten. Mit der industriellen Revolution war für den Bürger eine Vermögensanhäufung und Prachtentfaltung möglich, wie man sie zuvor nur von Adel und Klerus kannte. Die Maximen der Französischen Revolution wurden bald zugunsten der neuen Klasse uminterpretiert: Wer kein Geld hatte, konnte weder Freiheit, noch Gleichheit, noch Brüderlichkeit genießen und mußte sich in Bergwerken und Fabriken verdingen. Als 1830 in Frankreich der Bürgerkönig Louis Philippe seine Regentschaft antrat, hieß die Maxime: Bereichert euch! Um 1900 gab es im Bürgertum eine vorher nicht gekannte Anhäufung von Reichtum bei Industriellen, Bergwerksbesitzern und Spekulanten. In den Romanen von Emile Zola werden die Reichen jener Epoche eindrücklich beschrieben.
Nach zwei Weltkriegen, Geldentwertungen und Revolutionen schien die Welt gerechter geworden zu sein, der Reichtum war gezähmt, die Massenkaufkraft schuf einen vorher nicht gekannten breiten Wohlstand, auch durch die bedrohliche Existenz jenes anderen Systems, welches sich sozialistisch nannte. Schon lange vor 1989 gab es die Theoretiker des bedingungslosen Kapitalismus, doch sie beschränkten ihre Experimente auf periphere Länder wie Chile. Aber mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde die aggressivste Form des Kapitalismus weltweit zur alternativlosen Doktrin. Gleichzeitig entstand ein Heer von Glücksrittern und Spekulanten, die in unglaublich kurzer Zeit gewaltige Vermögen anhäuften. Ob in Rußland, China, Europa oder Amerika – überall entstand ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Kaste von Superreichen. Doch im Unterschied zu Zolas Romanfiguren droht den neuen Reichen weder ein Bankrott noch der Absturz ins Bodenlose oder schamvoller Suizid. Sie können nicht fallen. Ähnlich wie einst der Adel werden sie nicht belangt, für ihre Verluste müssen andere aufkommen. Sie begehen keine Kapitalverbrechen wie Mord und stehlen keine silbernen Löffel. So sich ein Kläger findet, findet der Richter für ihre Taten nur selten passende Paragraphen. Zuweilen wird von »Untreue« gesprochen, das läßt an einen verzeihlichen Seitensprung denken.
»Der Staat bin ich«, das kennen wir von Ludwig XIV. Während sich Fürsten und Könige Hofnarren hielten, bezahlen die neuen Herrscher Politiker, um ihre Macht abzusichern. Sie unterhalten große Denkfabriken, »Thinktanks«, die Demokratie neu erfinden, organisieren Schattenparlamente in Davos und anderswo, rufen steuersparende Stiftungen ins Leben. Als Person treten sie selten ans Licht der Öffentlichkeit. Sie leben in Ghettos, weit weg vom Leben der anderen. Man bleibt unter sich. Die meisten von ihnen sind kaum bekannt. Doch es gibt sie in allen Ländern, jene 0,1 Prozent, von denen der Buchautor Hans Jürgen Krysmanski schreibt. Zum Beispiel in Griechenland. Dort wurde gerade ein Journalist freigesprochen, der es gewagt hatte, die Namen jener zu veröffentlichen, die ihr Geld auf Schweizer Konten verschoben hatten. In Frankreich drohen Milliardäre mit dem Selbstentzug ihrer Staatsbürgerschaft und Republikflucht, wenn sie mehr Steuern zahlen müssen. Amerikanische Milliardäre greifen noch ungenierter in die Politik ein. Sechs Milliarden Dollar wurden allein in den Kandidaten Romney investiert, Obama bekam etwas weniger. Vor einem halben Jahr waren noch fast drei Viertel der Kalifornier für die Kennzeichnung von genmanipulierten Lebensmitteln. Mit einigen Millionen konnte man die Zahl auf unter 50 Prozent drücken. In Rußland können sich die Oligarchen weiter bereichern, sofern sie dem politischen Machtzentrum nicht zu nahe kommen oder kooperieren. Immerhin scheint es dort noch rudimentäre Ansätze des Primats der Politik zu geben. In China ist die Partei der Arbeiterklasse rechtzeitig zu einem neuen Adelsgeschlecht mutiert. Die verdienten Helden der ersten Stunde und deren Kindeskinder haben eine neue schwerreiche Erbmonarchie begründet, die vermutlich in zukünftigen Geschichtsbüchern als KPCh-Dynastie eingehen wird.
In Deutschland kokettieren die Superreichen selten mit Macht und Prachtentfaltung, hier gibt man sich im Gegensatz zu den romanischen Ländern protestantisch-bescheiden. Milliardäre wie Frau Springer und Frau Mohn wirken im Verborgenen, sind nur selten in den Klatschspalten des Boulevards zu finden. Doch die beiden Medienzarinnen beeinflussen das Land wahrscheinlich effizienter als es ein Berlusconi je vermochte. Vielleicht wird auf einem Landsitz bei Gütersloh oder Hamburg schon an der Ministerliste für die nächste schwarz-grüne Regierung gebastelt ...