Normativ ist das politische System der Bundesrepublik in erträglicher Verfassung – das Grundgesetz ist immer noch ein demokratisches Dokument, wenn es auch manche Ergänzungen hinter sich hat, die keine Verbesserungen waren. Und das Bundesverfassungsgericht wacht darüber, daß Regierung und Parlament mit den grundgesetzlichen Vorschriften nicht allzu lax umgehen, jüngst haben wir dies noch beobachten können, als es um das Haushaltsrecht der Volksvertretung ging. Allerdings sind bei Politikern und auch Juristen Zweifel aufgetaucht: Werden denn die Weichen für die Richtung, in die unsere Gesellschaft sich bewegen soll, überhaupt noch im nationalstaatlichen Stellwerk bedient? Oder eher an einem Platz in der Europäischen Union? Und wo dann dort? Diese Adresse ist nicht so recht zu ermitteln, da kommen etliche Institutionen in Frage, wer kann schon sagen, welche von ihnen die maßgebliche ist, und außerdem hat der Finanzmarkt das letzte Wort, und er entzieht sich territorialer Zuordnung.
Dennoch: Die Bundesrepublik ist eine parlamentarische Demokratie, die Kanzlerin ist von der Volksvertretung gewählt, die VolksvertreterInnen wiederum sind vom Volk gewählt, bei den Wahlen wird nicht gefälscht, und die Gesetze werden vom Parlament beschlossen. Alles wie es sich gehört. Wie mag es da kommen, daß sich unter den Bürgerinnen und Bürgern des Landes das dumpfe Gefühl ausbreitet, die Politik betätige sich gar nicht so, wie man es von ihr in einer Demokratie erwarten müsse? Auch greift der Verdacht um sich, die PolitikerInnen spielten dem Publikum Fähigkeiten vor, die sie gar nicht besitzen.
Angela Merkel steht in dieser Hinsicht noch prächtig da, sie genießt anhaltendes Vertrauen. Mangel an staatsfraulichem Fleiß kann man ihr nicht vorwerfen, in anderen europäischen Ländern äußert sich Zorn über ihre Ansprüche auf deutsche Regie, aber das bringt ihr hierzulande bei vielen auch Sympathien ein. Sie hat den großen Vorzug, auf deutsche Gemüter beruhigend zu wirken, niemand weiß ja, ob die Unwetter in anderen Staaten des Kontinents nicht doch auf die Bundesrepublik überspringen, und so ist es tröstlich, eine Kanzlerin mit einem wetterfesten Nervenkostüm zu haben. Freilich ist ungewiß, ob sie wirklich Durchblick hat bei den internationalen Finanzoperationen in riesigem Ausmaß, in Physik hat sie sich qualifiziert, nicht in den Wirtschaftswissenschaften.
Vielleicht ist die Sicherheit, die sie uns vorführt, nur eine barmherzige Täuschung? Ein Als-ob-Verhalten, um Unruhe im Volk zu vermeiden? Wolfgang Schäuble steht ihr dabei zur Seite, wie weit seine Rechenkünste reichen, ist nicht festzustellen, er leidet nicht unter übertriebenem Mitteilungsbedürfnis, das unterscheidet ihn von einem seiner Vorgänger im Amt.
Weniger eindrucksvoll als die Kanzlerin verhalten sich die Parlamentarier; einige von ihnen haben sogar ausgeplaudert, daß sie gar nicht verstehen, was sie da finanzpolitisch beschließen, aber das Bundesverfassungsgericht nötigt sie zum Als-Ob, sie müssen auch als Europäer ihr deutsches Budgetrecht hochhalten.
In ihrem ehemaligen Finanzminister hat Angela Merkel jetzt ihren Konkurrenten. Peer Steinbrück muß sich nun so geben, als sei er ein eingefleischter Sozialdemokrat. Wie er zu dieser Rolle gekommen ist, das ist nicht exakt festzustellen, die SPD-Mitglieder jedenfalls haben ihn nicht als Spitzenkandidaten erwählt, ein Parteitag darf ihn immerhin demnächst als solchen bestätigen, innerparteiliche Als-ob-Demokratie – in einer dürftigen Version. Die Grünen haben sich mehr Mühe gegeben, obwohl sie gar keinen Spitzenkandidaten und keine Spitzenkandidatin benötigen, denn das Kanzleramt kommt für sie (noch) nicht in Betracht. Außerdem steht schon fest, daß Jürgen Trittin den Vorrang hat, er ist als Linker etikettiert und zugleich willkommen bei den Bilderbergern, eine ideale Performance. Aber die grünen Parteimitglieder wurden formell bei der Auswahl beteiligt, sogar zusätzliche Kandidaten waren im Angebot, die so tun mußten, als ob sie eine Chance hätten. Innerparteiliche Gleichberechtigung als angenehme Fiktion. Aber Katrin Göring-Eckardt, ist sie nicht als Spitzenfrau ein Basisprodukt? Das scheint nur so, schon seit Jahren gehört sie zur grünen Führungselite, und sie war es, die etwas umwegig eine Mitgliederbefragung in Gang setzte. Erreicht ist nun, was für den grünen Wahlauftritt zweckmäßig ist: Das Bürgerliche an der längst gutbürgerlichen Partei wird stärker herausgestellt, zugleich jedoch wird dessen Repräsentantin als »Kämpferin gegen soziale Ungerechtigkeit« angepriesen. Verdrängt ist, daß sie seinerzeit die grüne Bundestagsfraktion auf den Schröderschen Agendakurs hindrängte. Insgesamt ein gelungenes politisches Schaustück.
Ganz anders ging und geht es bei den Piraten zu. Sie lassen freiweg Kandidatinnen und Kandidaten für Positionen in der Partei und für Kandidaturen zu den Wahlen aufstellen, im basisdemokratischen Verfahren; demoskopisch ist ihnen das jedoch zum Nachteil geraten. Echtes innerparteiliches Gerangel hat sich auch die Partei Die Linke erlaubt, erst einmal muß sie sich davon erholen. Zu erkennen ist, daß Abweichungen von politischen Als-ob-Gewohnheiten verstörend wirken können, zumal die Medien daraus gern etwas Skandalöses machen.
Webseiten und Blogs bieten inzwischen zahllose Möglichkeiten für jede Bürgerin und jeden Bürger, sich mit Echtheitsgefühl an politischer Willensbildung zu beteiligen – soviel direkte Demokratie war nie, man hat kaum die Zeit, alle Abstimmungschancen wahrzunehmen. Neulich etwa: Soll die Bundesministerin Annette Schavan aus ihrem Amt entlassen werden oder nicht? Ob jedoch die Kanzlerin willens und in der Lage ist, solche Ja- oder Nein-Stimmen zu sichten und sich zu Herzen zu nehmen? Darüber muß nicht nachgedacht werden, denn die nächste Befragung wartet schon auf den Klick.
In der Philosophiegeschichte steht seit Immanuel Kant und Hans Vaihinger das Als-Ob zur Debatte, wird darüber reflektiert, wie nützlich möglicherweise Fiktionen sein können, ideell oder lebenspraktisch. Dieser Gedanke ließe sich variieren. Zu prüfen wäre dann: Bringt in der Politik das Als-Ob zwar Unbehagen beim Publikum, aber doch Nutzen hervor – und für wen? Sogar demokratietheoretisch hätte ein solches Nachforschen seinen Reiz, der Weise aus Königsberg könnte zufrieden sein. Denn Aufklärung empfahl er den Bürgerinnen und Bürgern als möglichen Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Um zu präzisieren, sei eine Vorsilbe hinzugesetzt, die unser Bundespräsident so gern verwendet: Selbst-Aufklärung. Das heißt: Selbst muß man aufklären, weil nicht zu erwarten ist, daß Als-ob-Nutznießer andere über die Realitäten aufklären. Übrigens – Joachim Gauck, das ist doch der wagemutige Freiheitskämpfer aus DDR-Zeiten? Schluß nun, genug von dem Als-Ob in der Politik.