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Titel2412

Kein Schutz für die Verfassung  (Eckart Spoo)

Demokraten, schützt Eure Verfassung vor Mißachtung, Verdrehung, Aushöhlung, Abbau. Wie notwendig das ist, lehrt die mehr als 60jährige Geschichte der Verfassungen der Bundesländer und des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Wer heute liest, was damals beschlossen wurde, kann sich nur wundern. Da finden sich Normen für ein freiheitliches, demokratisches Zusammenleben, die wir in heutige politische Debatten nicht einbringen könnten, ohne befürchten zu müssen, vom sogenannten Verfassungsschutz wegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen angeprangert zu werden.

Im Jahre 1946 beschloß zum Beispiel das Volk des Landes Hessen als ein Verfassungsgebot (Art. 29,5), daß die Unternehmer nicht aussperren dürfen (weil sonst das Streikrecht ausgehebelt würde). Inzwischen haben aber Unternehmer auch in Hessen ausgesperrt, ohne daß das dortige Landesamt für Verfassungsschutz dagegen eingeschritten wäre. Verfassungsrechtliche Begründung: Das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz der Bundesrepublik enthalte kein Aussperrungsverbot, darum sei das hessische hinfällig. Daß das Grundgesetz nicht vom Volk beschlossen wurde, also weit weniger demokratisch legitimiert ist, zählt nicht.

Artikel 59 der hessischen Verfassung schreibt die Unentgeltlichkeit von Schul- und Hochschulunterricht vor. Dennoch wurden inzwischen Studiengebühren eingeführt, der hessische Staatsgerichtshof ließ es zu, und der amtliche Verfassungsschutz unternahm wiederum nichts, um die Verfassung zu schützen.

Das hessische Volk beschloß 1946 auch, gleich bei Inkrafttreten der Verfassung Bergbau, Eisenindustrie, Energiewirtschaft und Schienenverkehr in Gemeineigentum zu übernehmen (Art. 41). Damit war aber die US-amerikanische Besatzungsmacht nicht einverstanden. Sie verhinderte die Sofortsozialisierung, aber Artikel 41 blieb in der Verfassung stehen wie auch Artikel 39: »Jeder Mißbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt. Vermögen, das die Gefahr solchen Mißbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich trägt, ist in Gemeineigentum zu überführen. Bei festgestelltem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ist in der Regel die Entschädigung zu versagen.«

Ähnlich schön, traumhaft schön liest sich die nordrhein-westfälische Verfassung, beispielsweise Artikel 24: »Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit.« In gleichem Sinne wird »das Recht der Arbeitnehmer auf gleichberechtigte Mitbestimmung bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung anerkannt und gewährleistet« (Art. 26). »Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum übergeführt werden. Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht mißbrauchen, sind zu verbieten« (Art. 27). »Die genossenschaftliche Selbsthilfe ist zu unterstützen« (Art. 28).

Mit besonderer Freude und Wehmut lese ich die bayerische Verfassung: »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl ... Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte, insbesondere alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig« (Art. 151). »Offenbarer Mißbrauch des Eigentums- oder Besitzrechts genießt keinen Rechtsschutz« (Art. 158). »Eigentum an Bodenschätzen, die für die allgemeine Wirtschaft von größerer Bedeutung sind, ... und an Unternehmungen der Energieversorgung steht in der Regel Körperschaften oder Genossenschaften des öffentlichen Rechts zu. Für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmungen können in Gemeineigentum übergeführt werden, wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert« (Art. 160). »Steigerungen des Bodenwerts, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen« (Art. 161). »Männer und Frauen erhalten für gleiche Arbeit den gleichen Lohn« (Art. 168).

Ich schätze die bayerische Verfassung auch deshalb besonders, weil sie seit Anfang der 1970er Jahre aufgrund eines von mir initiierten Volksbegehrens privaten Rundfunk verbietet (Art. 111a: »Rundfunk findet in öffentlicher Verantwortung und in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft statt«). Die Regierenden in Bayern sahen sich dadurch inzwischen nicht gehindert, Privatfunk zuzulassen. Das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz kümmerte sich nicht darum und unterließ es, die Schuldigen zu Verfassungsfeinden zu erklären.

Das Grundgesetz aus dem Jahre 1949 gefällt mir schon weniger als die zitierten Landesverfassungen; die Restauration machte sich damals überall breit, auch im Verfassungsrecht. Aber das damalige gefällt mir immer noch viel mehr als das durch Dutzende Änderungen entstellte heutige, und mit großem Mißfallen beobachte ich, wie sich die Regierenden in Berlin sogar an dieser verunstalteten Verfassung vorbeidrücken. Die ersten großen Änderungen wurden dem Grundgesetz Mitte der 1950er Jahre bei der Aufstellung der Bundeswehr angetan, von der 1949 noch nicht die Rede gewesen war. Ein tiefer Eingriff in die Substanz des Grundgesetzes war die Notstandsverfassung von 1968, begangen von der Großen Koalition. Daß die Notstandsgesetze bis heute größtenteils noch nicht angewandt worden sind, sollte uns nicht beruhigen, im Gegenteil.

1969 trat die sozialliberale Koalition zwar mit Willy Brandts Parole »Mehr Demokratie wagen« an, aber Brandt selber war es dann, der die Politik der Berufsverbote einführte – eine, wie ich fand und weiterhin finde und wie nach einigen Jahren auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, menschenrechtswidrige Politik, konträr zu den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes. Sie verschaffte den Verfassungsschutzämtern des Bundes und der Länder große Wirkungsmöglichkeiten. Die Ämter wurden ermächtigt, viele zigtausende Menschen, vor allem aus der außerparlamentarischen Opposition, zu bespitzeln und sie bei öffentlichen und auch privaten Arbeitgebern anzuschwärzen. Was sie ihnen als angebliche Indizien für angebliche Verfassungsfeindlichkeit anlasteten, waren nicht etwa erwiesene Straftaten, sondern demokratische Aktivitäten wie Teilnahme an Demonstrationen oder Mitgliedschaft in nicht verbotenen Organisationen, zumeist antifaschistischen oder sozialistischen. Jede kritische Meinungsäußerung über den Kapitalismus, ja die bloße Benutzung von Wörtern wie Kapitalismus statt »freie Marktwirtschaft« oder Imperialismus oder Faschismus statt »Nationalsozialismus«, wie die Hitler-Faschisten selber ihr System irreführend genannt hatten, und auch der schlichte Gebrauch des Wortes Berufsverbote galten als Anzeichen von »linkem Extremismus«. Brandt selber nannte den sogenannten Radikalen- oder Extremisten-Erlaß später einen Irrtum, aber da waren schon Tausende Betroffene existentiell geschädigt, unzählige Menschen waren politisch eingeschüchtert, die Demokratie war geschwächt, und noch heute ist die Politik der Berufsverbote nicht endgültig überwunden – in schroffem Widerspruch zu Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes: »Niemand darf wegen ... seiner ... politischen Anschauungen benachteiligt ... werden« und Artikel 33 Absatz 2: »Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.«

Schauen wir, wie es um andere Grundrechte steht:
»Männer und Frauen sind gleichberechtigt«, heißt es seit 1949 in Artikel 3, Absatz 2 GG, aber alljährlich am 8. März, dem Internationalen Frauentag, stellen Frauenverbände und Gewerkschaften fest, daß Frauen im Durchschnitt 30 Prozent weniger Geld verdienen als Männer. Artikel 5: »Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.« Aber längst ist dieses Grundrecht zum Privileg einer Handvoll Medienkonzerne verkümmert; in den meisten Regionen der Bundesrepublik ist es monopolisiert, zum Beispiel im Raum Köln, wo der DuMont-Konzern publizistisch dominiert, ungeachtet des oben aus der nordrhein-westfälischen Verfassung zitierten antimonopolistischen Auftrags. Artikel 8: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« Aber Antifaschisten und andere Demonstranten haben schon häufig erlebt, daß die Polizei sie einkesselte und viele Stunden festhielt; Gerichte haben das schon x-mal verboten, aber es geschieht wieder und wieder. Artikel 10: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.« Aber die Zahl der Abgehörten geht weit in die Hunderttausende. Deutschland gilt heute als Weltmeister im Abhören. Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieses Grundrecht, eine besondere Errungenschaft des deutschen Verfassungsrechts aufgrund der Erfahrungen der Nazi-Verfolgten, die einst im Ausland Zuflucht gesucht hatten, ist dermaßen verstümmelt worden, daß es kaum noch genutzt werden kann. Artikel 19: In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt werden.« Aber genau das ist dem Asyl- und auch anderen Grundrechten widerfahren.

Nach Artikel 20 ist die Bundesrepublik ein Sozialstaat. Aber bis heute hat sie die von den Vereinten Nationen verkündeten sozialen Menschenrechte nicht ins nationale Recht aufgenommen; die von den wirtschaftlich Mächtigen gewollte Massenarbeitslosigkeit mit einer Millionenmenge an Dauerarbeitslosen, zunehmender Massenverarmung und wachsendem Druck auf die Beschäftigten ist ein einziger Hohn auf die sozialen Menschenrechte.

Artikel 26: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Verfassungswidrig, völkerrechtswidrig war zum Beispiel der Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, an dem sich die Bundesrepublik beteiligte, aber niemand wurde dafür bestraft. Zynische Begründung: Strafbar sei doch nur die Vorbereitung, nicht die Führung eines Angriffskrieges. Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung propagieren neuerdings den Präventivkrieg.

Gegen Ende des Grundgesetzes steht immer noch der Artikel 139: »Die zur ›Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus‹ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Ausdrücklich berief sich die Bundesregierung auf diesen Artikel, als sie die Aufnahme in die UNO beantragte. Aber der spätere Bundespräsident Roman Herzog erklärte ihn schon in seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts für »obsolet«. Das ist nunmehr herrschende Lehre. Erinnert sich überhaupt noch jemand hierzulande an die dort erwähnten Rechtsvorschriften? Beamte des von dem einstigen Nazi-Staatsanwalt Hubert Schrübbers aufgebauten Geheimdienstes mit dem Tarnnamen »Verfassungsschutz« werden dazu die geringste Neigung haben. Sie sind damit beschäftigt, den Kapitalismus vor Kritik und neue Nazis vor Antifaschisten zu schützen, wie wir nicht erst seit dem täglich sich ausdehnenden Skandal um den »Nationalsozialistischen Untergrund« wissen (s. Ossietzky 1, 13, 17, 21, 23/12).

Die Bundesrepublik ist nach Artikel 20 GG ein demokratischer Staat; »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt.« Der Bundestag hat einst sofort ein Wahlgesetz als gesetzliche Grundlage geschaffen, auf der er inzwischen immer wieder neu gewählt werden konnte. In mehr als sechs Jahrzehnten unterließ er es jedoch, ein Abstimmungsgesetz zu beschließen. Entgegen dem eindeutigen Auftrag des Grundgesetzes ist es daher dem Volke bisher verwehrt, die Staatsgewalt in Abstimmungen auszuüben. Auch die Verheißung des Artikels 146 bleibt unerfüllt: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« So mißbraucht der Bundestag seine geliehene Macht gegen das Volk. Ein verfassungswidriger Zustand. Ganz Obrigkeiten.

Bürger, schützt Eure Rechte! Demokratie muß immer neu erkämpft werden. Vom Volke. Gegen diejenigen, die es niederhalten wollen. Zu ihnen gehören die amtlichen »Verfassungsschützer«. Verfassungsschutz tut not. Aber nicht mit geheimdienstlichen Mitteln, im Gegenteil: durch Öffentlichkeit.