Am Morgen kam die Meldung – am Abend schon war sie ein Teil des Tanztheaters auf Kampnagel in Hamburg: Thema eines Stücks von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen: »Der Internationale Strafgerichtshof« in Den Haag. Die Meldung – ein Urteil dieses Gerichtshofs für Jugoslawien: Die beiden Ex-Generäle Ante Gotovina und Mladen Markac – verurteilt wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der serbischen Bevölkerung in Kroatien zu 24 und 18 Jahren Haft – sie sind nun im Revisionsverfahren freigesprochen. Weil nicht erwiesen sei, daß die Vertreibung von 200.000 Serben aus der Krajina von ihnen »geplant« war. Die beiden Offiziere wurden von einer Regierungsmaschine im Triumph nach Zagreb zurückgeflogen. Ein Urteil durch den Haager Gerichtshof, das nun keine Berufung mehr zuläßt. Die Aufarbeitung der Verbrechen richtete sich fast nur gegen die Serben. In Kroatien (bald Mitglied der EU) werden die beiden Freigesprochenen als Volkshelden gefeiert.
Das ist das Vorspiel der Realität und Aktualität zu dem Stück am Abend, das die Gerichtsbarkeit in Den Haag auf die Bühne bringt. Das Ensemble: sieben Schauspieler-Tänzer, kongolesische, ivorische (Elfenbeinküste) und deutsche. Die Mehrheit der im Gefängnis in Den Haag Sitzenden sind Kongolesen. Ein schwarzer Darsteller bringt es uns nahe. »Lieben sie dort die Kongolesen?« fragt er bitter ironisch. Und es müßte ein Spezialtribunal für den Kongo geben – die internationalen Konzerne sind involviert. Bodenschätze und Gas – sehr begehrt. Er versucht mit Emphase, dem ziemlich unwissenden Publikum Einblicke zu vermitteln, daß nicht nur ein paar Politiker schuldig zu sprechen seien. Wie Thomas Lubanga Dyilo, der ehemalige Führer der Union des Patriotes Congolais (UPC), der im März 2012 zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde. Die vertikale Rechtsordnung sei durch eine horizontale, breiter aufgestellte, Anklagepolitik zu ersetzen. Gesprochen – getanzt. Bilder, die die festgelegten Regeln des Gerichts demonstrieren, oft nur durch Handbewegungen sichtbar gemacht, Rituale. Dann ein Sich-gegenseitig-Hochsteigern, eine Tanz-Performance. Sie funktioniert, auch weil die Darsteller engagiert und nachvollziehbar spielen. Angeklagt in Den Haag, nur Schwarzafrikaner, »deren Namen man sich nicht merken kann«.
Ein Schritt zur Seite heißt: Wechsel zur Elfenbeinküste. Gesungene Geschichte, nicht traditionell, die Gegenwart steht auf der Bühne. Laurent Gbagbo, ein Politiker der ivorischen Volksfront, von 2000 bis 2005 Präsident der Elfenbeinküste. Gerangel um die Wahlen. Auf Veranlassung seines Gegners Alassane Quattara festgenommen. Am 30. November 2011 wurde Gbagdo an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgeliefert und als »Indirekter Mittäter« angeklagt. Keine Verletzungen der Menschenrechte, kein einziges Kriegsverbrechen der Militärs von Quattara wurde angeklagt oder verfolgt. Das Massaker von Duékoué, bei dem 800 Menschen ermordet wurden – laut dem Internationalen Roten Kreuz – schon gar nicht. Siegerjustiz? Ein deutscher Schauspieler übersetzt das Französische, auch die Gesten, kongruent. Der Internationale Strafgerichtshof –Vorbild die Nürnberger Prozesse? Nein, der Vergleich ist falsch. Er will ein Welt-Gerichtshof sein. Die Angeklagten treten vors Mikrophon und verteidigen sich mit den Worten der Haupttäter, die immer gleichen Argumente: »Für einen Soldaten sind Befehle Befehle.« Sie bekennen sich nicht schuldig.
Das Wirken von Carla del Ponte und Madeleine Albright: Die Prozesse sollten nicht funktionieren. Anklage und Verteidigung machen alles miteinander aus. Zum Milosevic-Prozeß fällt ein Satz: »Wenn man das mit juristischen Mitteln nicht hinkriegt, dann verstirbt er eben im Gefängnis.« Die unüberwindlichen Schwierigkeiten für Angeklagte: Lange schwere Stangen werden hereingewälzt, aufgetürmt, bis sie eine Mauer bilden. Ein Angeklagter verknotet seine Beine so, daß er nicht mehr frei laufen, kaum stehen kann. Eine Zwangsjacke für Beine. Und das Rückwärtstanzen? Alles wie früher? Die französischen Truppen, immer noch im Land, beherrschend. Aussagen der Afrikaner in ihrer Sprache, ins Mikro gesprochen, wie wirken sie auf Europäer, die nichts verstehen? Wie Tierlaute, komisch. Sie werden, durch Lautsprecher verstärkt, zu Gefechtslärm, zu Schreien. Der Sprecher: »Vielleicht ist ja alles ein Übersetzungsfehler.«
Eine Inszenierung, die das fast Unmögliche wagt, die keine Lösungen findet, die den Zuschauer fordert, ihn beschämt, weil er so wenig weiß.
Eine Woche vorher auf Kampnagel ein völlig anderes Stück: »We saw Monsters«, inszeniert von Erna Omarsdottir aus Reykjavik. Eine wundervolle Persiflage auf Horror-Filme, komisch und schrecklich. Viel Dampf auf der Bühne wabernd. Mit betäubender Musik (es gab Ohrstöpsel), Rock, laut dröhnend und die Tänzer dabei unterstützend, zu »Monstern« zu werden. Massensuggestion, von Gurus und anderen Heiligen angefeuert. Etwas Faschistisches steckt darin. Es überwältigt und erschreckt auch mich, die ich doch nüchtern alles betrachte. Aber immer wieder umwerfend clowneske Szenen. Zum Schluß Blut, Blut immer wieder Blut – war das nötig? Das Böse (die isländischen Geister?) war immer dabei – aber sehr gut gemacht.