Wir Deutschen lieben Zahlen, Fakten und Statistiken. Wir vertrauen auf Termine, Fahrpläne und Verträge, auf geordnete Strukturen und auf Pünktlichkeit. Sie geben uns die Illusion einer diffus obwaltenden Sicherheit, derer wir im individuellen Leben so oft entbehren. Sie sind die Stärken, die uns unsere Erbkrankheit, den Mangel an Empathie gegenüber uns selbst und anderen, vergessen machen. So lassen wir zunächst die Zahlen sprechen und wenden uns erst dann dem Unangenehmen zu, den Einzelschicksalen, die den schönen Sinn all der Statistiken und Pläne als tragische Vergeblichkeit entlarven: Bis Dezember 2014, nach dann 13 Jahren militärischer Einmischung in den Bürgerkrieg eines uns bis dahin völlig fremden Staates, an der Seite einer durch einen furchtbaren Terrorangriff gedemütigten Großmacht, ohne eine offizielle Kriegserklärung, entsandt mit dem Plazet eines sozialdemokratischen Kanzlers, sollen die derzeit noch 3700 in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten zurückgeführt werden. Eine in Wilhelmshaven befindliche tausendköpfige Bundeswehrabteilung koordiniert den Abzug der Mannschaften, den Transport von 1200 Fahrzeugen, von zehntausenden Waffen und etlichen Kommunikationssystemen in mindestens 4800 Zwanzig- oder Vierzig-Fuß-Containern. Bis heute sind 54 Bundeswehrangehörige am Hindukusch durch Kampfeinwirkungen, Unfälle, Suizide und Krankheiten getötet worden. Und drei deutsche Polizisten. Man schätzt, daß seit 2001 um die 22.000 einheimische Erwachsene und Kinder, davon allerdings zwei Drittel durch Taliban-Anschläge, den Kriegshandlungen und damit verbundenen Anschlägen zum Opfer gefallen sind. Rund 1400 afghanische Zivilangestellte stehen in vertraglichen Diensten der Bundeswehr, der Bundespolizei oder des Auswärtigen Amtes. Nach erfolgtem Komplettabzug Anfang Dezember 2014, so sagt der Plan, sollen immerhin 800 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan verbleiben, nicht zu weiteren Kampfeinsätzen, sondern zu Ausbildungszwecken für ihre ehemaligen afghanischen Verbündeten. Soweit die Zahlen.
Nun zu den oben erwähnten Einzelfällen, die in ihrer Gänze das deprimierende Ausmaß deutscher Präsenz in Kundus widerspiegeln:
Da ist der rußlanddeutsche Bundeswehrsoldat, der seit einer multiplen Bauchschußverletzung im Jahre 2007 für immer mit einem künstlichen Darmausgang zu leben hat; die familiäre Verpflichtung, seinen im sowjetischen Krieg gegen die Mudschaheddin 1983 gefallenen Onkel an den »Schwarzen« zu rächen, bereut er zutiefst und erstickt die tägliche Wut darüber im Alkohol. Die oberfränkische Kleinstadt, in der er lebt, sieht in ihm nicht etwa den Helden, sondern einen dieser zugezogenen »Russen«, die nur Ärger machen.
Der afghanische Dolmetscher, seit fünf Jahren für die ISAF und die Deutschen tätig, bekommt vielleicht ein deutsches Visum für sich, seine Frau und seine Kinder. Den Brief, in welchem ihm von der kommenden Provinzregierung des Islamischen Emirates Afghanistan (Taliban) der Tod angedroht wurde, er hat ihn schon erhalten. Dennoch prüft man sein Gesuch in Kundus genauso penibel, wie das Finanzamt Hildesheim die Werbungskosten eines Fleischermeisters nachberechnen würde.
Dem Großvater des 15jährigen Gul Mudin werden alle Fremden, auch die Deutschen, als Unmenschen in Uniform in Erinnerung bleiben, weil Gul während einer Spritztour des »Kill Teams« von Sergeant Gibbs aus Lust am Töten hingerichtet und sein Leichnam hernach geschändet wurde.
Der langjährige Konstrukteur bei Heckler und Koch in Oberndorf mutmaßt schon seit Jahren, daß die Materialbeschaffenheit des Sturmgewehres 36 bei Dauerfeuer zu Trefferabweichungen führt, so daß die Waffe bei extremer Hitze, sprich in afghanischer Sonne, von deutschen Soldaten nicht mehr präzis genug einzusetzen ist. Und der fragt sich, ob sein Unternehmen, das Deutschland eben auch zum drittgrößten Waffenexporteur werden läßt, indirekt am Tod des KSK-Soldaten aus seinem Bundesland verantwortlich zu machen ist.
Da ist der Bundeswehrfeldwebel, der schon jetzt weiß, daß er ab Januar 2015 beim privaten Militärdienstleister Asgaard aus dem Münsterland anheuern wird, weil das Ende seiner Tätigkeit als Zeitsoldat zufällig mit dem Rückzug der Bundeswehr aus Kundus zusammenfällt. Und ob nun mit Asgaard in Nordafrika oder mit Praetoria in Vorderasien – Geld ist Geld und Job bleibt Job.
Und einige Dienstgrade weiter oben, da findet man den Bundeswehrgeneral, der bis zum Ende seiner Tage mit der zermürbenden Frage leben muß, ob er – trotz mehrfacher Rückfrage der US-amerikanischen Flugleitzentrale – nicht doch besser auf verstärkte Aufklärung hätte setzen müssen, bevor er den tödlichen Bombenabwurf auf die 142 benzinabzapfenden Dorfbewohner anforderte. Die, wer wußte das schon, ja auch Taliban hätten sein können, tatsächlich aber eines ganz sicher nie gewesen waren: kämpfende Soldaten einer feindlichen Truppe.
Und ganz am Ende ist da der ehemals höchste General der Bundeswehr, der Generalinspekteur a.D., der 2012, vor gut einem Jahr also erst, orakelte, die Taliban würden binnen weniger Monate nach Abzug der Alliierten wieder zurückgekehrt sein. Der heute weiß, daß seit seinem Statement weitere fünf Bundeswehrsoldaten getötet worden sind. Und der, gemeinsam mit dem schon erwähnten Bundeskanzler, die Bundeswehr im Jahr 2001 dort hinziehen ließ, wo seitdem gestorben wird.
Der jetzige Verteidigungsminister, der behauptet, »wir lassen unsere afghanischen Freunde nicht im Stich«, und den man im Geiste ergänzen möchte mit den Worten »aber ab 2015 schon«: All dies gehört zur Geschichte bundesdeutschen Engagements am Hindukusch, wo sich ja einstmals Deutschlands Zukunft hat entscheiden sollen, wie wir uns noch gut erinnern. Was bleibt, ist allein die Trauer um die Toten auf allen Seiten, ist der Schmerz der Tausenden und die Wut auf den Zynismus der jeweilig politisch Agierenden, die die tägliche Tragödie Afghanistans hinnehmen und sie willfährig fortführen. Und dies bitte bis zu ihrem geplanten Ende. Bis dann schließlich der Tarnfarbenvorhang fällt. Doch so sind wir Deutschen halt. Wir kämpfen bis zur letzten Patrone.