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Titel2414

10 Jahre »Hartz IV« – eine kritische Bilanz  (Christoph Butterwegge)

Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das im Volksmund als »Hartz IV« bezeichnete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die »Mutter aller Reformen« genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend verändert: Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer »Bedarfsgemeinschaft« zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch »Hartz IV« ebenfalls vergrößert. Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften stehen unter einem stärkeren Druck, geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, seit die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift. Die mit den »Hartz-Reformen« in Gang gesetzte soziale Abwärtsspirale erschwert den normalen Alltag vieler Durchschnittsbürger/innen, beeinträchtigt auch ihren aufrechten Gang.


Deshalb und weil der Arbeitslosengeld-II-Bezug bis ins Zentrum der Gesellschaft ausgreift, läßt sich von der Bundesrepublik als »Hartz-IV«-Gesellschaft sprechen. Zeitweilig lebten fast 7,5 Millionen Personen, darunter etwa 5,5 Millionen ALG-II-Bezieher und rund zwei Millionen Sozialgeldempfänger – meistenteils Kinder unter 15 Jahren – in über vier Millionen »Bedarfsgemeinschaften«. Das waren mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung unter 65 Jahren, für die »Hartz IV« eine bloße Grundsicherung schuf. Erst nach etlichen Verschärfungen des Gesetzespaketes nahm die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften seit dem Juni 2006 kontinuierlich ab, was auch für die Anzahl der unmittelbar von »Hartz IV« betroffenen Personen gilt, die jedoch im Gefolge der Banken-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008/09 erneut anstieg. Gegenüber dem statistischen Gipfel im Mai 2006 ist die Anzahl der Grundsicherungsempfänger zwar um circa 20 Prozent auf rund sechs Millionen gesunken, dafür mittlerweile allerdings fast jeder zweite von ihnen im Dauerbezug (vier oder mehr Jahre).


Mit der Zeit hat sich auch das Verhältnis von Staat und Leistungsberechtigten sowie von Bürgern zu Leistungsbeziehern gewandelt. Mehr noch: Die »Hartz-Gesetzgebung« hat Deutschland mitsamt seinem Wohlfahrtsstaat, seiner (sozial)politischen Kultur und seinem jahrzehntelang auf Konsens orientierten gesellschaftlichen Klima viel stärker verändert als manche parlamentarische Weichenstellung der Nachkriegszeit. Fragt man nach den immateriellen Schäden, seelischen Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewußtsein, die besonders »Hartz IV« unter den Betroffenen hervorgerufen beziehungsweise hinterlassen hat, braucht das Gesetzespaket womöglich selbst einen Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen.


Totalitär ist das »Hartz-IV«-System insofern, als es sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringt und die Betroffenen nicht mehr losläßt, ihren Alltag völlig beherrscht und sie zwingt, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten. Wie sehr der Staat sich anmaßt, über die Lebensweise von Grundsicherungsbeziehern zu entscheiden, zeigte die einstweilige Verfügung, mit der das Landgericht Köln im März 2011 den Lotto-Annahmestellen in Nordrhein-Westfalen untersagte, »Hartz-IV«-Empfängern eine Sportwette zu verkaufen. »Hartz IV« bezeichnet heute die Grenze eines akzeptierten Lebensstandards und der bürgerlichen Seriosität in einem sozial fragmentierten und polarisierten Land. Jenseits davon beginnt eine Zone der Verachtung gegenüber Transferleistungsbeziehern, mit denen die »Leistungsträger« der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben wollen, wie sich die »Hartzer« umgekehrt immer harscher von den »besseren Kreisen« absetzen.


Längst gibt es, was man als »Hartz-IV«-Welt bezeichnen kann und eine Armutsökonomie sowie eine ausgeprägte Subkultur im Bereich der nach Millionen zählenden ALG-II-Empfänger samt ihren Familien bildet, die von »Hartz-IV«-Kochbüchern über Sozialkaufhäuser bis zu »Hartz-IV«-Kneipen reicht, wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Praktischerweise galt ab 1. Januar 2003 zusammen mit den ersten beiden »Hartz-Gesetzen« auch die Pfandpflicht, wodurch die rot-grüne Koalition dafür gesorgt hat, daß Transferleistungsbezieher und Niedriglöhner ebenso wie Altersrentner ihr karges Haushaltseinkommen durch das Sammeln und die Rückgabe von Pfandflaschen und Getränkedosen aufbessern können. Seither gehören Dosen- und Flaschensammler, die Mülltonnen und Abfalleimer durchwühlen, vielerorts zum normalen Stadtbild.


Wer die brisante Mischung von berechtigter Empörung, ohnmächtiger Wut und blankem Haß auf »die Etablierten« kennt, wie sie wohl nur in »Hartz-IV«-Beratungsstellen und Versammlungen von Erwerbsloseninitiativen existiert, sofern die Betroffenen nicht schon resigniert und sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, kommt zu dem Schluß, daß innerhalb der Bundesrepublik zwei Welten oder »Parallelgesellschaften« existieren und die Brücken dazwischen abgebrochen worden sind. Auf der einen Seite entstehen Luxusquartiere, in denen sich die »Superreichen« hinter den hohen Mauern ihrer Villen verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen; auf der anderen Seite konzentrieren sich die Armen in despektierlich als »soziale Brennpunkte« oder euphemistisch als »Stadtteile mit besonderem Erneuerungs-« oder »Entwicklungsbedarf« bezeichneten Elendsquartieren der Großstädte.


Hier besuchen die »Abgehängten« jene Suppenküchen, die sich heute nobel »Lebensmitteltafeln« nennen, erhalten Wäsche in Kleiderkammern der Wohlfahrtsverbände, holen sich Einrichtungsgegenstände aus Möbellagern und beschaffen sich vieles, was sie darüber hinaus zum Leben benötigen, in Sozialkaufhäusern. Seit dem »Hartz-IV«-Start boomen diese Einrichtungen geradezu. Wenn aus dem »Land der Dichter und Denker« ein Land der Stifter und Schenker wird, die für Arme und Bedürftige sorgen, zieht sich der Staat mit Hinweis auf ihre karitative Tätigkeit und den expandierenden Markt der Barmherzigkeit am Ende ganz aus der Verantwortung für die soziale Sicherung seiner Bürger zurück. Zivilgesellschaftliches beziehungsweise bürgerschaftliches Engagement kann, so wichtig es sein mag, die im Grundgesetz verankerten sozialen (Staats-)Bürgerrechte aber nie vollwertig ersetzen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch »Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?« bei Beltz Juventa erschienen (290 Seiten, 16,95 €).