Plötzlich waren sie da, im Sommer 2014, einfach so, wie vom Himmel gefallen, die Terroristen des IS. »Vom Himmel gefallen« stimmt selbstverständlich für diese relativ kleine, aber extrem gewalttätige Gruppe nicht. Die Heerscharen des IS können gar keine himmlischen sein. Bestien, Monster und Schlächter seien sie, die ganze Landstriche im Irak und Syrien in Angst und Schrecken versetzen, erfahre ich aus unseren Medien. Nun war ich nie in dieser Gegend, jetzt nicht und früher auch nicht. Um mir eine Meinung bilden zu können, bin ich deshalb auf die Berichterstattung der Medien angewiesen. Meine bevorzugte Quelle ist zumeist Spiegel online, wo ich erhellende, oft aber auch verwirrende Informationen erhalte. Allerdings war es am 12. September 2014 der Freitag, der mich verstörte. Konrad Ege eröffnete mir dort unter dem Titel »Mit dem Teufel spielen«: »Im syrischen Bürgerkrieg, so die Brookings Institution in Washington, haben vor allem Geldgeber aus Kuwait extremistische Gruppen finanziert. ›Mit dem Feuer spielen‹ heißt die Ende 2013 vorgelegte Studie. Das sei aus dem Ruder gelaufen. So könne der ›Islamische Staat‹ nun seine Botschaft in dem von der US-Invasion zerstörten und mit einer repressiven schiitischen Führung versehenen Irak verbreiten.« Ich bin verunsichert. Sie waren also gar nicht so plötzlich und unvermittelt vom Himmel gefallen, die Terroristen des IS. Da war nur etwas »aus dem Ruder gelaufen«.
Ich erfahre, daß der IS, nachdem er kurzzeitig zu den Guten gehörte, weil gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad kämpfend, nun zweifelsfrei zum Reich des Bösen gehört. Ein amerikanischer Präsident hatte einmal die Welt in die für alle verständlichen Kategorien »gut« und »böse« eingeteilt. Dabei sind die Guten die, die die westlichen Werte vertreten, Werte die sich dann letztendlich in Erdöl und anderen wertvollen Ressourcen manifestieren und in Märkten und Einflußzonen. Die Bösen, so verstehe ich das, sind die anderen, die den Bemühungen der Guten Widerstand entgegensetzen. Der IS scheint irgendwie dazwischen zu liegen. Einerseits kämpft er gegen Assad, andererseits verfolgt er aber auch den westlichen Vorstellungen zuwiderlaufende Interessen.
Eigentlich war vorgesehen, in Syrien ein regime change zu veranlassen und dafür alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, weil Assad kein im Sinne des Westens guter, heißt williger, Regent ist. Ein freiheitliches System sollte etabliert werden, genauso wie vor Jahren im Irak oder unlängst in Libyen. Beide Länder sind heute weitgehend unregierbar geworden.
»Und ihr denkt, es geht um einen Diktator«, lautet der Titel eines erstaunlichen Artikels von Hans-Christof Kraus in der F.A.Z. vom 17. Oktober, in dem ich lese: »Der aktuelle Konflikt um ein Eingreifen oder Nicht-Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg ist deshalb so brisant, weil sich in dieser Frage der Gegensatz zwischen zwei radikal unterschiedlichen geostrategischen und weltpolitischen Konzeptionen manifestiert.« Der westlichen Seite gehe es nicht um Hilfe für die syrischen Bevölkerung, »sondern um Einflußnahme auf die Neugestaltung des Landes nach einem voraussichtlichen Sturz des derzeitigen Regimes, obwohl man mit diesem bisher stets gut zusammenarbeiten konnte. Mehrere, seit längerem geplante, für den Westen wichtige Öl- und Gaspipelines stehen auf dem Spiel, die Saudi-Arabien und Katar mit dem östlichen Mittelmeerraum und der Türkei verbinden und deshalb partiell durch syrisches Gebiet führen sollen.«
Bei der Befreiung des syrischen Volkes sieht sich eine Gruppe von Staaten, die sich »Freunde Syriens« nennen, veranlaßt, mitzuhelfen. Zu diesem Bündnis haben sich unter Führung der USA Jordanien, Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und die Türkei, auch Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zusammengeschlossen, eine ziemlich gemischte Truppe mit so völlig unterschiedlichen Interessen, daß es ein Wunder wäre, wenn bei den gemeinsamen Aktionen tatsächlich nichts aus dem Ruder laufen würde.
Jedenfalls erlaubt Anfang 2012 Friedensnobelpreisträger Barack Obama die heimliche Unterstützung der Aufständischen durch den Geheimdienst CIA und andere Behörden und verspricht, die syrischen Rebellen mit Waffen zu unterstützen. Außerdem sollen nach Manövern in Syriens Nachbarland Jordanien ein Teil der Truppen dort verbleiben. Es sollen dort auch mehr als 5000 Rebellen für den Kampf gegen das Assad-Regime trainiert werden. Obama verstärkt kurz darauf sogar die Unterstützung der Rebellen noch, nachdem der UNO-Sicherheitsrat sich abermals nicht auf stärkere Sanktionen gegen das Assad-Regime einigen konnte. Aber nicht nur die USA, auch die anderen »Freunde Syriens« sind nicht untätig. Spätestens ab Mai desselben Jahres wurden Kämpfer der syrischen Opposition vom türkischen Geheimdienst trainiert und bewaffnet. Katar unterstützte die syrische Revolution schon 2011 und begann sie mit Waffen zu versorgen, die von der katarischen Luftwaffe über die Türkei eingeflogen wurden. Auf saudische Rechnung wurden Infanteriewaffen, Mörser und rückstoßfreie Geschütze aus Kroatien beschafft und über Jordanien nach Syrien geschmuggelt. Im Januar 2013 wurde laut Wikipedia bekannt, daß Saudi-Arabien zudem rund 1200 zum Tode verurteilten Insassen seiner Gefängnisse anbot, ihre Strafe umzuwandeln, sollten sie in Syrien gegen die Regierungstruppen kämpfen wollen.
Die Guten betreiben einen gewaltigen Aufwand, um dem syrischen Volk zu helfen. Allerdings ist dabei eben nicht sicher, daß die so großzügig gelieferten Waffen wirklich in die richtigen Hände kommen. Die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, unterstützen nämlich ganz offen die radikaleren Kämpfer mit Waffenlieferungen und Geldgeschenken, wie ich am 3. Oktober 2013 in meinem Informationsmedium lesen kann. Auch Geldgeber aus Kuwait finanzieren extremistische Gruppen.
Deshalb ist da wohl etwas »aus dem Ruder gelaufen«, und nun werden Luftangriffe gegen IS-Stellungen sowohl im Irak als auch im Nordosten Syriens durchgeführt. Erstaunlicherweise ist das Militärbündnis beim Kampf gegen den IS nicht sehr erfolgreich. Was den hochgerüsteten und mit allen technischen Fähigkeiten moderner Kriegführung ausgestatteten Alliierten 2003 gegen Saddam Hussein im Handumdrehen gelang, gegen den IS will das alles nicht fruchten. Die dschihadistische Rebellengruppierung ist erstaunlich erfolgreich, und ich frage mich, wo das zum Kriegführen notwendige Material, Waffen und sonstiges Know-how, wohl herkommen mag. Seit Wochen nun kulminieren an der Grenze zur Türkei die Kämpfe um die Stadt Kobane in einer Region, die weitgehend von Kurden bewohnt ist. Unsere Medien sind voller Berichte darüber. Präsident Obama erklärt der Terrormiliz IS den Krieg und bereitet die Welt darauf vor, daß sich der Kampf über Jahre hinziehen wird.
»Darüber dürften sich vor allem US-Rüstungskonzerne und private Sicherheitsfirmen freuen. Sie versprechen sich von neuen Militäraktionen im Irak oder in Syrien Milliardengeschäfte.« Gerade hat die »Lockheed-Aktie an der Börse spürbar zugelegt. Und nicht nur die: Auch der Index, der die gesamte US-Rüstungsindustrie zusammenfaßt, steigt seitdem.« (Spiegel online, 17.11.2014)
Allerdings scheinen die Luftschläge der unterstützenden Alliierten nicht wesentlich zu helfen, so daß das Weiße Haus im Prinzip Kobane schon aufgegeben hat, wie ich am 8. Oktober lesen kann und auch, daß US-Außenminister John Kerry kühl erklärt, daß Kobane kein strategisches Ziel sei. Ich frage mich, warum Kobane kein strategisches Ziel ist. Geht es nicht auch um die Menschen dort? Wenn nicht, worum geht es eigentlich?
Die Türkei hat in unmittelbarer Nähe Kampftruppen positioniert, die reaktionslos den Kämpfen und dem tagtäglichen Morden zusehen. Die Türkei wird erst militärisch eingreifen, sagt Präsident Erdoğan, wenn der Kampf gegen den IS mit dem Sturz Assads verbunden wird. War es nicht so, daß das NATO-Mitglied Türkei jahrelang Extremisten über ihr Staatsgebiet nach Syrien einreisen ließ? Konnten sich Dschihadisten nicht in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen, und erhielt der IS nicht Waffen, Munition, Nahrungsmittel und Medikamente über die Türkei? Die Terroristen konnten unbehelligt Nachwuchs in Metropolen wie Ankara und Istanbul rekrutieren. Und nach wie vor verkauft der IS Öl von den eroberten Feldern auf dem Schwarzmarkt in der Türkei und finanziert so seinen Krieg. Während die türkische Armee den Kämpfen um Kobane tatenlos zusieht, bombardiert die türkische Luftwaffe laut Medienberichten kurdische Rebellen. Welches Spiel wird dort eigentlich gespielt?
Regime change ist eine seit längerem bevorzugte Strategie der USA, um in Ländern mit Staatsformen, die den Interessen der USA im Wege sind, USA-freundlichere Systeme zu etablieren. Dafür wird eine berechtigte, spontane, manchmal auch bewußt arrangierte Unzufriedenheit genutzt, die sich zumeist in einer anfangs friedlichen Form äußert, sich aber recht schnell instrumentalisieren läßt und dann in gewalttätige Aktionen umschlägt. Weil sich dann die herrschende Regierung zu entsprechenden Gegenreaktionen veranlaßt sieht, ist das dann wiederum ein Grund für die westlichen Hüter der Freiheit, eine massive finanzielle und waffentechnische Unterstützung der nun militanten Unzufriedenen zu veranlassen. Damit das Ganze einen freiheitlich-demokratischen Anschein erhält, werden spätestens seit dem Afghanistan-Krieg immer auch andere »willige« Staaten eingebunden.
Der Konflikt in Syrien begann 2011 mit berechtigten Protesten gegen das autokratische Assad-Regime, die von diesem niedergeschlagen wurden. Daraus entwickelte sich unter massiver Einmischung und Unterstützung der »Freunde Syriens« ein bewaffneter Aufstand, der in einen blutigen Bürgerkrieg eskalierte. Fast 200.000 Menschen sind seither ums Leben gekommen, elf Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht, viele der Städte im Land sind weitgehend zerstört, zahllose Kulturstätten vernichtet.