Was wird aus »Wir schaffen das«, was wird aus dem Land des Lächelns für die Neuankömmlinge, aus der Versicherung, dass die Zahl der Asylanten nicht zu begrenzen und die Genfer Flüchtlingskonvention unbedingt einzuhalten ist? Statt einer Willkommenskultur nun eine Ausweisungsunkultur und ein Pegida-Rassismus. Zwar setzt die Mehrheit der Menschen im Lande noch immer auf das »Refugees welcome!« – aber das ist nicht die Mehrheit, die sich die Regierungsparteien wünschen. Und so setzen die Unionsleute auf das, was die Rassisten wollen: Stacheldraht, Rausschmiss, kein Herz sondern Hetze. Und so gerät sogar der Sessel von Angela Merkel ins Wanken.
Immer wieder wird dieser Tage Wolfgang Schäuble als Schattenkanzler bezeichnet. Seine körperliche Verfassung verbietet es zu sagen, er sitze in den Startlöchern, seine geistige Verfassung erlaubt dieses Bild durchaus. Er widersprach der Kanzlerin und erinnert öffentlich daran, dass er nun in einem Alter sei, in dem Adenauer erstmals zum Kanzler gewählt wurde. Schon einmal hielt sich Schäuble bereit. Das war, als er »die Einheit aushandelte« und dann als Innenminister für die Staatssicherheit zuständig war, die Sicherheit des neuen Gebildes. Damals setzte er auf Partner von rechts.
Für das Neue Deutschland (siehe ND 3.12.91) nahm ich im Herbst 1991 in Hahnenklee/Westharz an einer Propagandakonferenz des Schäuble-Innenministeriums und des Bundesverfassungsschutzes teil, zu der über hundert zumeist junge Journalisten aus den »neuen Ländern« eingeladen worden waren, um auf Linie gebracht zu werden. Die Arbeiten von Verfassungsschutzwissenschaftlern nach dem Strickmuster »rot ist schlimmer als braun, weil noch wirksam« spielten eine große Rolle. Der inzwischen emeritierte Professor Eckhard Jesse, Referent in Hahnenklee, hatte in einem Grundsatzartikel in der FAZ vom 28.8.91 der Hoffnung der Ultrarechten Ausdruck gegeben: »Vielleicht werden die frühen neunziger Jahre dereinst als eine Inkubationszeit für den Beginn eines ›Anti-Antifaschismus‹ gelten.« Bald danach wurde diesem Begriff von Neonazis mit terroristischen Methoden Nachdruck verliehen.
Es wurden in Hahnenklee politische Bildungsmaterialien präsentiert, die den Anti-Antifaschismus begründeten, bevor die Neonazis selbst auf die Idee AntiAntifa kamen. So gab es eine Broschüre zur »Inneren Sicherheit« mit dem Titel »Bedeutung und Funktion des Antifaschismus«. Im Vorwort prangert das Schäuble-Ministerium den angeblichen Missbrauch des Antifaschismus an: »Die Linksextremisten sehen in ihm ein neues Schwerpunktaktionsfeld für sich, nachdem Friedensbewegung und Anti-Kernkraft-Bewegung abgeflaut sind. Sie setzen auf die traditionelle Zugkraft des Antifaschismus, um so ihre Bündnisfähigkeit zurückzugewinnen.« (hg. vom Bundesinnenministerium, 1990)
Einer der Verfassungsschutz-Professoren war bis Mitte der 90er Jahre noch Hans-Helmuth Knütter. In einer vom Innenministerium verbreiteten Broschüre kam dieser Professor mit rechtsextremen Verbindungen zu Wort: Die Broschüre »Antifaschismus als innen- und außenpolitisches Kampfmittel«, sie »dient der Enttabuisierung des ›Faschismus‹ und der Kritik am Antifaschismus«. Denn »Formeln wie ›die finsterste Zeit der deutschen Geschichte‹ erhellen nichts, klären nicht auf, legen Bekenntnisse der Gesinnungstüchtigkeit ab und markieren Opportunismus, sind pseudomoralisch und tabuisieren dadurch. Das gilt es zu überwinden.« (hg. vom Seminar für politische Wissenschaft der Universität Bonn und verbreitet vom Bundesinnenministerium seit 1991) So sollte der Faschismus wieder salonfähig gemacht werden – aus Steuermitteln finanziert.
Was wir dieser Tage erleben, erinnert an die Anti-Antifa der Neonazis seit etwa 1991. Damals wurde die Programmatik für das formuliert, was wir heute vorfinden: den Übergang der neonazistischen Bewegungen zum nazistischen Terror. Die Programmatik wurde regionalen Drohlisten als Präambel vorangestellt und vor allem im Zusammenhang mit der Schwarzen Liste »Einblick« bekannt. Diese Liste wurde von Neonazis versendet – und von antifaschistischen Journalisten öffentlich angeprangert. Die Behörden wiegelten ab. Uns Betroffenen wurde bei Konsultationen mit der Polizei sogar amtlich mitgeteilt, dass die Anti-Antifa nichts anderes sei als die Reaktion der Rechtsextremen auf die Bedrohung durch die Linken. Den von Anti-Antifa Bedrohten, die auf der Liste standen, wurde eiskalt bedeutet, das Bundeskriminalamt wolle den Nazigeheimbund, der mit »Einblick« immerhin zur »endgültigen Ausschaltung« seiner Gegner aufruft, nicht als kriminelle oder terroristische Vereinigung einstufen.
Der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen nannten 1993 in ihren Verfassungsschutzberichten vor allem Christian Worch aus Hamburg als Anführer der Anti-Antifa und »Einblick«-Chef. Die grundsätzliche »Einblick«-Präambel enthielt eine Einschätzung, die der des Innenministeriums ähnelte: Die einzige Übereinstimmung der Nazigegner »mit dem dummprogrammierten Bundesbürger bleibt das ›ewige Zugpferd‹ der deutschen Linken, bleibt der ›Antifaschismus‹«. Daher sei Anti-Antifaschismus dringend geboten. Andersdenkende seien zu »bestrafen«.
Die Neonazis drängten also schon seit Anfang der neunziger Jahre auf immer neue Maßnahmen gegen den »Ethnozid an den Deutschen« (so wörtlich im »Einblick«). Und so wollen sie die Maßnahmen durchsetzen: »Der eigentliche Gegner ist nicht der Asylant, der Zigeuner, der Wirtschafts- oder Kriegsflüchtling. Wir müssen uns an die halten, die uns die Suppe eingebrockt haben.« Und das seien »1. der deutsche Gesetzgeber, die deutsche Regierung und alle nachgeordneten deutschen Behörden, 2. die deutschen Parteipolitiker von CDUCSUSPDFDPPDSGRÜNEN, 3. deutsche Juristen, 4. deutsche Kirchenvertreter, 5. deutsche Gewerkschaftsfunktionäre, 6. deutsche Unternehmer, die ›billige Ausländer‹ beschäftigen, 7. deutsche Medienvertreter, 8. deutsche Lehrer aller Schulstufen und Professoren, 9. deutsche Schriftsteller und andere Kunstschaffende, 10. Funktionäre deutscher Sportvereine und -verbände, 11. verschiedene Bürgerinitiativen, gesellschaftliche Gruppierungen, Vereine und Verbände, 12. mehr oder weniger bekannte und einflussreiche deutsche Einzelpersönlichkeiten.« Sie alle seien »Inländerfeinde« (zitiert aus »Einblick«).
Die Pläne zur Ausmerzung dieser zwölf Personengruppen sind nicht zu den Akten gelegt. Nicht nur Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte stehen auf der Tagesordnung, sondern auch Mordanschläge auf jene, »die uns die Suppe eingebrockt haben« – daher der Mordanschlag auf Henriette Reker, inzwischen Oberbürgermeisterin von Köln. Der Mordversuch wurde laut Kölner Stadt-Anzeiger von einem Parteigänger der FAP verübt. Stellvertretender Vorsitzender dieser heute verbotenen »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« war Christian Worch, der heute die Partei Die Rechte anführt, der die Behörden das Parteienprivileg zubilligen, obgleich sie über beträchtliches terroristisches Potential verfügt. Von den dreizehn Mitgliedern der rechtsextremen Terrorgruppe in Bamberg, die bei einer Razzia, die am 21. Oktober 2015 festgenommen wurden, stammt ein erheblicher Teil aus der Mitte und dem Umfeld dieser Partei; bei der Gruppe wurden Anschlagspläne, Waffen und Sprengstoff gefunden. Christian Worch distanzierte sich nicht von den Terroristen, er bemängelte nur ihre Fehler im Konspirieren.
Über ihre Feinde schrieb die Nazi-Anti-Antifa: »Alle diese Leute müssen wissen, dass sie die Zielscheibe künftiger grundstürzender Veränderungen sein werden und dass sie unter Umständen ein gewisses Risiko eingehen, wenn sie ihre Aktivitäten fortsetzen.« (Nation Europa 11/12-92)
Die staatliche Anti-Antifa bestand und besteht in der Durchsetzung der Totalitarismustheorie, in der Rechts-Links-Gleichsetzung und damit Reinwaschung des Faschismus. Die Gefahr einer Rechtsentwicklung der Mitte ist offensichtlich. Sie fällt in zwei Teile: einerseits Anwachsen des Neofaschismus, Duldung und Förderung der Neonazis als mögliche gesellschaftliche Reserve durch den Staat und andererseits Abbau von Grundrechten durch den Staat, dies auch durch zunehmende Militarisierung und Ausbau des Überwachungsstaates.
Das Konzept des früheren Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble war dem Spiegel vom 9. Juli 2007 zu entnehmen und ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Ich hatte in Vorträgen kommentiert, das Konzept mache allen rechtsextremen Putschplänen Ehre, was mir den mehrjährigen Eintrag im Verfassungsschutzbericht des Landes Bayern eintrug. Es besage, so führte ich entsprechend dem Spiegel-Bericht in öffentlichen Diskussionen aus (die Fakten wurden vielfach in Medien gebracht): Beseitigung des verfassungsmäßig nicht veränderbaren Artikels 1 des Grundgesetzes (Schutz der Menschenwürde und des Lebens), Einsperren von »Verschwörern und Gefährdern« in Lager, gezielte Tötungen von Regimegegnern, Kommunikationsverbote für politisch Missliebige und ganze Bevölkerungsgruppen, Hausdurchsuchungen ohne Anwesenheit von Zeugen und Betroffenen, denn das sind die geheimen Onlinedurchsuchungen privater Computer, weiter: Einsatz von Militär mit Waffen gegen Demonstranten und umfassende Bespitzelung der Bürger durch Polizei und Geheimdienste (Rasterfahndung).
Das war Schäubles extrem rechter Katalog, und es gibt keine Hinweise, dass Schäuble inzwischen umgedacht hat. Angela Merkel ermutigte Schäuble damals: keine Denkverbote im Kampf gegen den Terror. Merkel sagte: Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit sei »von gestern« – um zum Vorgestern zurückzukehren? Schäuble brachte jetzt als erster laut Medienberichten vom 19. November den Einsatz der Bundeswehr im Innern als Konsequenz aus den Anschlägen in Paris ins Spiel. Zu den weiteren Schäuble-Plänen gehörten 2007: Fingerabdrücke aller Bundesbürger werden bei der Passbehörde gespeichert, Mautdaten werden für Fahndungszwecke verwendet. Sodann sollen erfolterte Geständnisse verwendet werden. Es soll Vorratsspeicherungen der Verbindungsdaten aller Arten elektronischer Kommunikation geben.
Wolfgang Schäuble als neuer Kanzler – das könnte auf die Führung einer Republik der Anti-Antifa hinauslaufen, in der sich faschistische Terroristen weitgehend unbehelligt tummeln dürfen.