Kapitalismus und Krieg
Der als Begründer der Frankfurter Schule geltende Max Horkheimer vertrat den Standpunkt, dass jener, der vom Kapitalismus nicht reden will, auch vom Faschismus schweigen solle. Heute müssen wir angesichts der den ganzen Erdball erfassenden explosiven Situation sagen: Wer vom Kapitalismus redet, darf vom Krieg nicht schweigen!
Wer keine Terroristen will, muss die Verhältnisse ändern. Durch sie rekrutiert sich, wenn dies nicht geschieht, nicht nur ständig neu die Kraft des Terrorismus, sie sind letztlich auch die Quelle für immer wieder neue Kriege.
Matin Baraki
Allgegenwärtige Überwachung
Leben wir in einem totalitären Überwachungsstaat? Hat die in George Orwells düsterem Roman »1984« befürchtete Vision von einem »Großen Bruder« uns inzwischen eingeholt?
Die Mehrzahl der dazu Befragten würde diese Fragen sicher entrüstet verneinen. Andere Leute verweisen hingegen schon seit Jahren auf eine zunehmende Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und Privatsphäre durch die Datensammelwut von Unternehmensgruppen, Behörden und Geheimdiensten.
Wolf Wetzel hat sich in seinem neuen Buch hauptsächlich mit den fragwürdigen Aktivitäten deutscher Schlapphüte beschäftigt. Der Autor geht dabei zurück in die Zeit des Kalten Krieges, verweist immer wieder auf aus dieser Zeit datierende Zusammenarbeit westlicher Geheimdienstler mit rechtsradikalen Organisationen und Terrorgruppen.
Ausführlich schildert der Autor auch die zahlreichen Unstimmigkeiten bei den offiziellen Ermittlungen im Falle der Neonazi-Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Wetzel weist nach, dass Öffentlichkeit und Volksvertreter schon seit Jahren in diesem Zusammenhang systematisch belogen werden. Tatsächlich sei der deutsche Verfassungsschutz über Informanten und Mittelsmänner wohl auch praktisch in die NSU-Morde verwickelt. Und bei dem sogenannten Terrortrio handele es sich keineswegs um Einzeltäter, vielmehr um nur eine Gruppe im Netzwerk bewaffneter Rechtsradikaler, die der Staatsschutz offensichtlich an der langen Leine laufen ließ, um sich ihrer im Bedarfsfalls zu bedienen.
Andere Kapitel des Buches beschäftigen sich mit dem völlig sorglosen Umgang der Mehrheit der Menschen mit ihren Daten. Musste früher zum Ausspionieren von Menschen aufwendig ihre Wohnung verwanzt werden, zur Feststellung der Identität von Demonstranten ein polizeilicher Zugriff erfolgen, ist dies alles mittlerweile überflüssig. Fast jeder schleppt heutzutage in Gestalt eines Handys, Smartphones oder Tablets seine Überwachungshardware mit sich herum – und bezahlt ihren Betrieb dann auch noch aus eigener Tasche. Die Betreiberfirmen der Glasfasernetze kooperieren mit diversen Geheimdiensten, und diese filtern mit Hilfe von Spähprogrammen die gewünschten Informationen aus dem Datenwust heraus. Wetzel schreibt, die technischen Möglichkeiten für eine Totalüberwachung (fast) aller Menschen seien längst gegeben, und sie würden zunehmend auch genutzt.
Sind wir der permanenten Überwachung durch einen Verbund von Geheimdiensten und rechten Terrororganisationen hilflos ausgeliefert? Sicher nicht. Wetzel wurde seit vielen Jahren selbst gezielt observiert und schildert, wie er vor Gericht gezielte Fälschungen von Informationen durch Geheimdienstmitarbeiter nachweisen konnte. Außerdem verweist er auf die Enthüllungen von Aussteigern, durch die zahlreiche illegale Praktiken an die Öffentlichkeit kamen. Und meint abschließend: »Der beste Schutz vor Repressionen ist, solche Geheimnisse öffentlich zu machen und Mut zu machen, all dies nicht länger schweigend hinzunehmen.«
Gerd Bedszent
Wolf Wetzel: »Der Rechtsstaat im Untergrund. Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität«, PapyRossa Verlag, 219 Seiten, 14,90 €
Alter Wein in neue Schläuche?
Seit kurzem haben wir einen neuen Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Peter Frank.
Die Querelen um seinen Vorgänger Harald Range sind hinlänglich bekannt. Er stand der Behörde von November 2011 bis September 2015 vor. Peter Frank ist nunmehr der 11. Generalbundesanwalt in der Geschichte der Bundesrepublik. Nicht jeder der Vorgänger hat sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Ausnahmen hiervon bilden Max Güde, der zur Zeit des KPD-Verbots die Behörde leitete, oder Siegfried Buback, der durch bisher nicht eindeutig festgestellte Mitglieder der ersten Generation der RAF 1977 ermordet wurde. Sein Nachfolger Kurt Rebmann trat deshalb ein schweres Erbe an, gehörte aber zu jenen, die mit fast 13 Jahren am längsten dieses Amt ausübten. Die Ernennung in eine solche Position ergibt sich aus § 149 des Gerichtsverfassungsgesetzes. Danach wird durch den Bundesminister der Justiz mit Zustimmung des Bundesrates ein Ernennungsvorschlag beim Bundespräsidenten eingereicht. Als Generalbundesanwalt ist man politischer Beamter (§ 54 Bundesbeamtengesetz) und als solcher an Weisungen gebunden. »Er soll die kriminal- und sicherheitspolitischen Ansichten und Ziele der jeweils amtierenden Bundesregierung teilen und kann jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden.« Der Bundesminister der Justiz übt die Dienstaufsicht über ihn aus. Hieraus ist bereits erkennbar, dass das Amt keine Unabhängigkeit beinhaltet, was besonders im Zusammenhang mit dem »Fall« Range zu der Diskussion führte, ob ein solches Abhängigkeitsverhältnis noch zeitgemäß ist. Seit Gründung der Generalbundesanwaltschaft im Jahr 1950 gilt die beschriebene Praxis, es zeigt sich aber inzwischen auch, welche Grenzen damit gesetzt sind. Von der Staatsanwaltschaft wird gern behauptet, sie sei die »objektivste Behörde der Welt«, was denn eigentlich auch für die oberste Staatsanwaltschaft gelten sollte. Dazu passt politische Abhängigkeit beim besten Willen nicht und verträgt sich auch nur schwer mit dem Rechtsstaatsprinzip. Es wäre also durchaus überlegenswert, an dieser Abhängigkeit etwas zu ändern. Das muss nicht sofort dazu führen, dass der Generalbundesanwalt nicht mehr einer bestimmten Dienstaufsicht unterstellt ist, wohl aber sollte er politisch unabhängig agieren in einem Feld, das nun mal maßgeblich vom Recht geprägt sein muss.
Ralph Dobrawa
Unsere Zustände
Wir leben in einer Zeit, da ein Äon zu Ende geht und ein neuer beginnt. Aber wir sehen nur die Wasser eines Baches, nicht, wie er in einen Fluss und dieser in das Meer mündet. Und wir sehen nicht die Wogen, die auf uns zukommen, um uns zu vernichten oder um uns zu tragen.
*
»Wir schaffen das!« In einem Land, wo das ICH vorherrscht, bekommt das WIR anonyme fatalistische Akzente.
*
Wenn die einen »Hüh!« brüllen und die anderen »Brrr!«, gibt es kein Ziel, die Gäule gehen durch, und die Kutsche bricht auseinander. Wehe denen, die drin sitzen.
*
Du kannst die Hoffnung verlieren. Du kannst den Glauben verlieren. Du kannst den Mut verlieren. Aber wenn du deine Heimat verlierst, hast du alles verloren.
Wolfgang Eckert
Vogelperspektiven
Die Frage bleibt offen: Wie kam das rosarote Ei in das Rabennest? Das ist einfach nicht wichtig. Geschlüpft ist jedenfalls gesunder Nachwuchs – den vier Vogelkindern nicht sehr ähnlich, aber genauso munter, laut und hungrig wie sie. Gemeinsam kuscheln alle unter den Flügeln der Rabeneltern, die auch das rosige Wesen akzeptieren, wie es ist. Und als der Lütten kein Federkleid wächst, beschafft ihr der besorgte Papa ein modisch pinkfarbenes Kleidchen und eine passende Kappe. Mamas Kommentar: »Unsere kleine Rosa«. Die lässt sich wie die Geschwister mit Fliegen, Würmern und Schnecken füttern, krächzt mit ihnen um die Wette, schlägt mit den Ärmchen und versucht zu flattern. Alle finden das prima und fühlen sich miteinander wohl.
Sorgen machen sich andere. Die Nachbarn haben allerhand gute Tipps für das arme Ding, damit es schnell genauso wird wie alle Rabenjungen.
Es dauerte ein Weilchen, bis Rosa begriffen hatte, dass sie anders und quasi ein Außenseiter ist in ihrer Familie. Brav übt und übt sie ein Rah-Rah-Rah, trainiert das Flattern, reibt sich mit Birkenblättern ein, bis sie grasgrün ist, und versucht sich anzupassen. Erfolglos. Doch eines Tages ist ihr alles zu dumm. »Na und?« sagt sie, »dann bin ich eben anders!« Und als sie auch noch herausgefunden hatte, dass sie zwar nicht fliegen, sich mit ihren Händen jedoch den Kopf kratzen, die Ohren zuhalten und sogar in der Nase bohren kann, ist sie‘s höchst zufrieden. Und die Rabeneltern sind es auch. So kann sich Rosa auf ihren Rücken festhalten, wenn alle Vögel auf dem Weg nach Süden sind. Denn dass man zusammenbleibt, daran besteht kein Zweifel.
Die neue Bleibe ist ein toller Kletterbaum. Rosa erreicht das Rabennest fast so schnell wie die Vogeleltern, denen sie bei der Aufzucht der nächsten Generation hilft. Dort fühlt sie sich zu Hause und geborgen. Alle wissen, dass sie etwas anders ist, aber sie gehört dazu. Als Rudi, der Frosch, fragt: »Was bist Du denn für eine?«, antwortet sie selbstbewusst: »Ich bin die Rabenrosa.« Und bald wird sie etwas können, was ihr nicht jeder nachmacht: Der neue Freund wird ihr das Schwimmen beibringen.
Diese poetische Geschichte hat Helga Bansch geschrieben, die 1957 in der Steiermark geboren wurde und heute in Wien lebt. Geschöpft hat sie sicherlich aus ihren Erfahrungen als Volksschullehrerin beziehungsweise als Sozialarbeiterin im Umgang vor allem mit Kindern, die als verhaltensgestört gelten und deshalb ausgegrenzt werden oder sich so fühlen. Dabei entdeckte Helga Bansch das Zeichnen und Malen als Ausdrucksmittel und wichtige Kommunikationshilfe für alle, die nicht den allgemeinen gesellschaftlichen Normen entsprechen, die »anders« sind. Seither malt sie Bilder mit Acryl auf Karton oder Leinwand, macht Puppen, Marionetten und Objekte aus Sandstein, Ton und Pappmaché. Überzeugend lang ist die Reihe der von ihr illustrierten Kinderbücher. Aber fast ebenso viele der Geschichten hat sie sich selber ausgedacht und mit einfühlsamen Zeichnungen ergänzt. Anerkannt wurden ihre Leistungen mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen. Der vorerst letzte war der »lllustrationspreis der Stadt Wien 2015« für die herzerwärmende und mutmachende »Rabenrosa«.
Das Lob gilt nicht nur der Moral der Geschichte, die in den »Wertediskussionen« der heutigen Tage dringlicher ist als je, sondern dem Gesamtkunstwerk, einer witzigen Komposition aus ganzseitigen und kleinen mehrteiligen Buntstift- und Aquarellzeichnungen auf strukturierten, teilweise bedruckten Papieren.
Erschienen ist das Buch bei Jungbrunnen Wien. Eigentümer des Verlages sind seit seiner Gründung (1923) die Österreichischen Kinderfreunde. Erklärtes Ziel: gute Bücher für alle Kinder. 75 Prozent der Titel wurden in 30 Sprachen übersetzt. Überall in der Welt werden Jungbrunnen-Bücher gelesen. Sie sind spannend, und brisante Themen werden nicht ausgelassen. Die jungen Leser werden unterhalten, ohne dass ihnen triviale Ideal- und Scheinwelten vorgegaukelt werden. Sie sollen sich in den Büchern zu Hause fühlen und sich mit existenziellen Fragen beschäftigen können. Besonderen Wert legt Jungbrunnen auf Qualität bei Inhalt, Sprache und Illustrationen.
Katharina Schulze
Helga Bansch: »Die Rabenrosa«, Verlag Jungbrunnen Wien, empfohlen für Kinder ab 4 Jahren, 32 Seiten, 14,95 €
Künstler und Pazifist
Auch für Menschen, die mit Leben und Werk des 1872 in Bremen geborenen Malers und Grafikers Heinrich Vogelers (s. Ossietzky 17/2012) vertraut sind, ist die Lektüre des Katalogbuches »Heinrich Vogeler. Traum vom Frieden« spannend. Und für diejenigen, die den Künstler noch nicht kennen, ist es ein Gewinn, seinen Lebensweg in Wort und Bild mitzuerleben. Er führt vom eher bürgerlichen Künstlerdorf Worpswede in die Sowjetunion, wo Vogeler 1942 stirbt. Überzeugend gelingt es den Herausgebern Andrea Fromm und Tom Beege die Entwicklung Vogelers vom romantischen Jugendstilkünstler zum künstlerischen Agitator und kompromisslosen Sozialisten aufzuzeigen.
In seinem Artikel »Warum bin ich Kommunist?« schreibt Vogeler 1919: »… im vollen Glauben an die gerechte Sache … zog ich im September 1914 kriegsfreiwillig ins Feld, getragen von der Idee des Kampfes für den verletzten Menschheitsfrieden … Zum Entsetzen fühlte ich in wenigen Monaten, dass es niemandem darum ging, für den Friedenszustand unter den Menschen zu kämpfen … Ich erkannte bald, dass das ganze militärische System, fest verankert auf dem kapitalistischen Mehrbesitz, zu Raub und Knechtung der Schwächeren mit unheimlicher Konsequenz trieb, zur Verewigung des Krieges …« Die Idee von Frieden und Gerechtigkeit steht im Zentrum seines Schaffens, als er sein Worpsweder Paradies im selben Jahr in die Landkommune und »Arbeitsschule Barkenhoff« umwandelt, später in ein Ferienheim der Roten Hilfe Deutschland.
Die Herausgeber legen ein vielschichtiges Lebensporträt Heinrich Vogelers mit 233 Abbildungen und informativen biografischen Texten vor. Die zum Teil realistisch-naturalistischen Zeichnungen und Drucke der Mappe »Aus dem Osten« sind während des Ersten Weltkriegs unter anderem in der Ukraine entstanden. Sie zeigen Menschen, denen Vogeler nicht als Feinden begegnete, Dörfer, von menschlicher Arbeit geprägte Landschaften und die Spuren der Schlachten. Heinrich Vogelers »Traum vom Frieden« ist aktueller denn je.
Das Katalogbuch entstand im Auftrag des Kunsthauses Apolda Avantgarde, wo Vogelers Werk in großer Breite bis zum 13. Dezember zu sehen ist.
Renate Schoof
Andrea Fromm, Tom Beege (Hg.) im Auftrag des Kunsthauses Apolda Avantgarde, Donat Verlag, 176 Seiten, 19,80 €
Walter Kaufmanns Lektüre
Wie Klaus Bellin ein Schriftstellerleben auf oft weniger als vier Druckseiten zu umreißen versteht, unterhaltsam, sprachlich gekonnt und stets gut zu lesen: ein Zauberer! Das Wort sollte nicht nur für Thomas Mann aufbewahrt bleiben, es trifft auch auf Bellin zu – allein wegen seiner Einstiege: »Sie war Brecht rettungslos verfallen« – Marieluise Fleißer; »er wäre ja lieber in Italien gewesen« – Christian Morgenstern; »er kam ja nicht oft, aber wenn er erschien, dann war’s ein Auftritt« – Gerhart Hauptmann; »der Ruhm kam über Nacht« – Erich Maria Remarque. Man schlage das Buch beliebig auf: Jeder Einstieg zu den nahezu fünfzig Schriftstellern, über die Bellin schreibt, weckt augenblickliches Interesse – und das unabhängig davon, ob einem einst oder noch berühmten Schriftsteller nachgegangen wird oder einem vergessenen. Löblich, wie Bellin gerade den Vergessenen neuen Ruhm beschert, er deren Können hervorzuheben versteht, deren Träume, Mühen und Leistungen. In sämtliche Schriftstellerleben vermittelt er neue, tiefe Einblicke, zwischen den Zeilen scheinen sich vollständige Biographien aufzutun. Treffliche, an genau richtiger Stelle offenbarte Begebenheiten machen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung deutlich. Auf kleinstem Raum ist viel zu erfahren, oft wird man überrascht und zum Wiederlesen von Büchern angeregt, zum Entdecken auch solcher, die einem entgangen waren. Klaus Bellins Bankett für Dichter ist eine Fundgrube.
W. K.
Klaus Bellin: »Bankett für Dichter. Feuilletons zur Literatur«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 240 Seiten, 18,99 €
Bildungsauftrag oder?
Man will es einfach nicht glauben …, aber im Laufe eines Lebens kann schon eine Menge bedruckten Papiers zusammenkommen. Obwohl meine Frau gelegentlich anmahnt, die laufenden Buchregalmeter endlich einmal durchzusehen, kann ich mich nur schwer von Büchern trennen – schon gar nicht von den inzwischen vergilbten Reclam-Heften aus meiner Schul- und Studienzeit.
Dabei ist so mancher Autor in meiner Sammlung nur lückenhaft vertreten. Aus irgendwelchen Gründen habe ich den Kauf über Jahre hinweg immer wieder hinausgeschoben. Aber zum Glück gibt es Bibliotheken. Und so bin ich seit Jahrzehnten eifriger Leser unter anderem in der hiesigen Stadtbibliothek.
Als ich vor einiger Zeit einen Roman von Lion Feuchtwanger ausleihen wollte, musste ich jedoch feststellen, dass die alten Ausgaben des Aufbau-Verlages aus dem Regal verschwunden waren. An eine komplette Ausleihe wollte ich nicht glauben. Bei meinem nächsten Besuch entdeckte ich dann, dass man auch Werke von Honoré de Balzac ausgesondert hatte. Als ich daraufhin die Bibliotheksleiterin ansprach, erhielt ich zur Antwort: »geringe Ausleihquote«. Meine Frage nach dem Bildungsauftrag der Bibliothek wurde nur mit einem Schulterzucken beantwortet.
Also muss ich die vorhandenen Feuchtwanger- und Balzac-Lücken in meiner häuslichen Bibliothek demnächst auffüllen, wobei ich auf das eheliche Verständnis hoffe. Trotzdem frage ich mich: Müssen die Bibliotheksverantwortlichen bei ihrer Einkaufspolitik immer nur nach aktuellen Bestsellern schielen, so dass Klassiker (wenn auch mit geringer Ausleihquote) in den Regalen den literarischen Eintagsfliegen häufig Platz machen müssen?
Manfred Orlick
Zuschrift an die Lokalpresse
Bei Bahnfahrten durch unsere Länder und damit verbundenen Umstiegen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mir Regionalzeitungen zu kaufen und durchzublättern. Manchmal kann man sich die Ausgabe auch sparen, da freundliche Reisende ihre ausgelesenen Seiten auf dem Sitz oder in der Ablage liegenlassen.
»Ihre Messerschmitt Bf 109 steht bereit«, verspricht eine Werbebeilage, die mir aus der Leipziger Rundschau vom 21. Oktober entgegenfiel. Laut Aussage des Konstrukteurs aus einer Radioübertragung vom 8. Dezember 1942 handelte es sich dabei um den damals »erfolgreichsten Jagdflieger der Welt«. Mit der Maschine warf sich Rommels Fliegerhauptmann und Ritterkreuz-mit-Brillanten-Träger Hans-Joachim Marseille »furchtlos jedem Gegner entgegen« und wurde »zur Legende des Afrikafeldzuges und zum Albtraum der britischen Spitfire- und Hurricane-Piloten«. Schade, dass es den »Stern von Afrika«, wie der kühne Pilot liebevoll genannt wurde, schon im Kriegsjahr 1942 im hoffnungsvollen Alter von 22 Jahren bei der Dienstausübung dahinraffte. Keine Angst, dem Leser droht dieses Schicksal nicht, denn es handelt sich bei dem verlockenden Angebot laut Prospekt nur um ein maßstabsgetreues Modell in Originallackierung »mit dem Kopf eines Löwen und eines Schwarzen« auf dem Fliegerabzeichen sowie 51 Balken unter einer umkränzten 100 auf dem Seitenruder für 151 Luftsiege, und das inklusive einer 24seitigen Dokumentation für nur 4,90 Euro! Versandt wird das Kleinod übrigens von »Editions Atlas« in Weil am Rhein, also am deutschesten aller Flüsse. Da kann man nur zugreifen, zumal die Versandkosten im Preis enthalten sind.
Ist im Bundesverteidigungsministerium daran gedacht, der Jugend auch heutige Bundeswehrwaffen auf diese Weise nahezubringen? Man kann ja dabei mit Waffen beginnen, die um die Ecke schießen und »friendly fire« verbreiten, damit unsere junge Generation schrittweise an ihre Verteidigungsaufgaben herangeführt werden kann. Für Kunden von Räer empfehlen sich übrigens auch schmucke Modellwaffen im Verhältnis 1:1, davon laut Prospekt keine Knarre über 199,00 €. – Gernot Jäger (34), Objektschützer, 16908 Klein Haßlow
Wolfgang Helfritsch