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Titel2416

Briefe ins Jenseits  (Ingrid Zwerenz)

Es gehört viel guter Wille und eine erhebliche Portion Optimismus dazu, wenn ein Mann vom Fach über Jahre hin immer wieder Einladungen an einen Verstorbenen richtet. Es geht dabei nicht um eine Art Séance, sondern um ganz solide wissenschaftliche Veranstaltungen. Der unbeirrbare Briefeschreiber ist seit langem mit der Hoffnungsphilosophie eines ganz bestimmten Denkers beschäftigt, vielleicht bezieht er aus dieser Lehre den Antrieb, es unverdrossen zu versuchen, oder nimmt sich eine aparte Definition aus einem von dessen Begriffen zur Richtschnur: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich (…) steht, hat er seine Zeiten. (…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.« (Zitiert nach »Erbschaft dieser Zeit«)

 

Die versuchten Kontaktaufnahmen mit einem seit dem 13.7.2015 nicht mehr Lebenden sind vielleicht eine Anwendung von »Ungleichzeitigkeit«, wie sie sich der Erfinder dieses Begriffs wohl kaum vorgestellt hätte. Eigentlich war von mir geplant, künftige Post ins Nirgendwo zu ignorieren. Da unterliegt ein Mann, sagte ich mir, seinem konstanten Irrtum, was nicht leicht ist, denn es gab ungewöhnlich viele Nachrufe und ausführliche Nekrologe für einen kurz nach seinem 90. Geburtstag Verstorbenen. Breiten wir also den Mantel atheistischer Nächstenliebe über das Schreiben vom 3.9.2015, dachte ich, doch dann folgte am 4.1.2016 die nächste Einladung, und sie begann so: »Sehr geehrter Herr [es folgt der Name], kennen Sie Thomas Morus‘ berühmten Staatsroman ›Utopia‹ ? Genau vor 500 Jahren wurde er erstmals publiziert.« Trotz aller von mir aufgewandten Geduld – es gibt Grenzen. Einen Menschen, der sich seit 1953 nahezu regelmäßig mit Ernst Blochs Werken befasste, zu fragen, ob er ›Utopia‹  von Morus kenne, entspricht etwa der Erkundigung bei einem gut und traditionell arbeitenden Bäckermeister, ob ihm die Funktion von Sauerteig und Hefe vertraut sei. Anzumerken ist, dass der brieffixierte Dr. K. K., beschäftigt im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen, sehr wohl wusste, mit wem er es zu tun hatte.

 

Als Gerhards und mein Buch »Sklavensprache und Revolte. Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West« 2004 erschienen war, gab es Anfragen aus Ludwigshafen wegen einer eventuell stattfindenden Lesung – allerdings verbunden mit einer tränentreibenden Anmerkung, man sei dort zeitlich und finanziell außerordentlich knapp. Daraufhin winkten Gerhard und ich per Post umgehend ab, unter keinen Umständen wollten wir etwa schuldig werden am Ruin des Ernst-Bloch-Zentrums.

 

Am 2.5.2016 langte hier abermals ein Einladungsbrief für GZ an mit der Mitteilung: »Dada ist in aller Munde. Auch in unserer …« Sei‘s drum, vielleicht ist das angewandtes Dada. Am 1.9.2016 – noch ein Schreiben im Kasten: Anfang tadellos: »Humanismus ist ein gutes Signal, um zu Frieden und Versöhnung zu kommen.« Hätte sicher Gerhards Zustimmung gefunden, wenn er denn noch auffindbar und im lesefähigen Zustand gewesen wäre.

 

Nach der ersten postmortalen Einladung vom 1.9. 2015 mailte ich umgehend an den Dr. K. K. »… Gerhard Zwerenz ist am 13.7.2015 verstorben, seine Urne wird morgen bei Sylt seebestattet …« Doch unbeirrbar wandte man sich von Ludwigshafen her an einen lebenden Autor GZ – wenn es denn wenigstens geholfen hätte, auf die Knie wäre ich gefallen vor Dankbarkeit. Doch hatte der so kritische wie skeptische unvergessene Satiriker Lothar Kusche noch zu seinen Lebzeiten über einen für ihn geplanten Nachruf an den damit beauftragten Kollegen geschrieben: »Fragen Sie mich, bitte, nicht, wie ich es erfahren habe, damit wir uns nicht in metaphysische Gefilde verirren.« Kusche schwante offenbar, was nach dem Ableben von Autoren alles schiefgehen kann (siehe Ossietzky 17/2016).

 

Eine Zeitung in den USA meldete eines Tages, dass Mark Twain verstorben sei. Darauf telegraphierte er dem Blatt: »Nachricht von meinem Tod stark übertrieben.« So verschieden kann’s zugehen beim Leben und Sterben von Schriftstellern.