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Titel2416

Bemerkungen

Unsere Zustände

Ach, wie schnell sind wir dabei, anderen die langen Bärte abzuschneiden, wenn wir uns selber nicht rasieren.

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Man muss Träume bewahren wie die Sehnsucht nach warmen Regenschauern. Ohne Träume ist die Wirklichkeit ein eisiger Hagelschlag.

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Mit krummen Brüdern lassen sich keine geraden Geschäfte machen.

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Wer die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, kann nicht mit Messer und Gabel umgehen.                         

 

Wolfgang Eckert

 

 

Geschichte auf der Bühne

»Geflüchtet, unerwünscht, abgeschoben. ›Lästige Ausländer‹ in Hamburg 1919–1933« – so ist das neueste Projekt der Bremer Historikerin Eva Schöck-Quinteros benannt, auf die Bühne gebracht von der bremer shakespeare company. Wer die Besprechungen der Aufführungen in der Reihe »Sprechende Akten« (Ossietzky 8/2012 und 13/2015) gelesen hat, dürfte stutzen: Bisher bezogen sich die Themen ausschließlich auf Bremen. Nun also – im 11. Projekt, das die Historikerin mit Studierenden der Hamburger Universität durchgeführt hat, – geht es um Hamburg. Die Hamburger Premiere fand Mitte Oktober im »Polittbüro« statt.

 

Ein Ergebnis der Forschungen ist, dass sich die beiden Hansestädte (Tor und Schlüssel zur Welt) in ihrem Umgang mit »lästigen Ausländern« in der Weimarer Republik nicht wesentlich unterschieden.

 

Bremen und Hamburg übten Landesverweisungen, die oft an der Reichsgrenze endeten, gleichermaßen restriktiv aus. Bremen berief sich ohne jegliche gesetzliche Grundlage schlicht auf sein »Hoheitsrecht«, Hamburg auf das sogenannte Verhältnisgesetz von 1879, das aber durch den Verweis auf den unbestimmten Rechtsbegriff des »öffentlichen Interesses« der Polizei freie Bahn ließ. Die Behörden nahmen Forderungen von Organisationen wie dem »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund« auf, kurz gefasst in der Parole »Deutschland den Deutschen«. Begriffe wie »volksfremd« waren gängig. (Gemeint waren vor allem »Ostjuden«.) Sie werden heute durch Worte wie »nicht integrierbar« ersetzt. Das »öffentliche Interesse« – zum Beispiel finanzieller Art (Einsparung von Sozialleistungen) – nahm, wie heute, das exkludierende Denken auf materieller Ebene auf. Der Antisemitismus äußerte sich offen in Drohungen und Verleumdungen zum Beispiel gegenüber dem Schauspieler Alexander Moissi.

 

Im Begleitband heißt es: »Nur ein Blick zurück macht Gegenwart verständlicher und ermöglicht es, Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.« An einem Abend, an dem deutlich wird, wie Politik feindselige Stimmungen »besorgter Bürger« – besorgt beispielsweise wegen ihrer Arbeitsplätze oder Wohnungen – exekutiert, könnte Resignation eher das Ergebnis sein. Doch an dieser Stelle ist auf die eindrucksvolle Art zu verweisen, wie das Ensemble aus einer Schauspielerin und drei Schauspielern die »sprechenden Akten« zum Sprechen bringt. Ein Funke der Hoffnung lässt sich aus dem Artikel Albert Einsteins über »Die Zuwanderung aus dem Osten« schlagen, aus dem die Stimme der Vernunft und des Humanismus spricht (vorgetragen von Erika Spalke), und aus der Zuschrift Alexander Moissis, der sich gegen die politischen Vorwände wehrt, die die rechten Krawallmacher geltend zu machen versuchen (vorgetragen mit dem nötigen Pathos von Peter Lüchinger).

 

Vorgänge mögen sich wiederholen, aber es macht einen Unterschied, dass wir uns aus der Kenntnis der Vergangenheit gegen sie wappnen können.  

 

Lothar Zieske

 

Nächste Aufführung in Bremen, Theater am Leibnizplatz: 18. Dezember, 18 Uhr. Materialband: Myriam Gröpl, Anna Mamzer, Eva Schöck-Quinteros (Hg.): »Geflüchtet, unerwünscht, abgeschoben. ›Lästige Ausländer‹ in Hamburg 1919–1933«, Aus den Akten auf die Bühne, Bd. 11, 150 Seiten, 8,90 €.

 

 

Wir sind Juden aus Breslau

Am 17. November war bundesweit die Premiere eines Dokumentarfilms zu erleben, der einer der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands in der Zeit zwischen den Kriegen gedenkt – und wie er das tut! Kein Blick aus der Ferne ist das, keiner von irgendwo her, sondern aus dem Herzen der Erinnerungen von Überlebenden: Breslau, verlorene Heimatstadt, Stadt jüdischen Lebens, jüdischer Bräuche, jüdischer Kultur – vergangen, verweht, unter Stiefeln zerstampft, im Feuer der Fackeln verbrannt, untergegangen im Reich, das tausend Jahre währen sollte und nach zwölf in Trümmern lag. Vierzehn Zeitzeugen, die todgeweiht waren, blicken wehmütig und mit Abscheu zurück auf jene Jahre, in Zorn und in Trauer, und was sie in die Kamera sagen, ist vor einer Kulisse von Hitlerreden zu hören, vor Jubelnden unter Hakenkreuzfahnen, im Gleichschritt Marschierenden, auch hier und heute Marschierenden, Rechtsradikalen, aufgebrachten Polen, die Hassparolen grölen und sich nationalistisch gebärden. Worte und Bilder gewinnen sehr eigene, sehr neue Bedeutungen, einstige Fluchtpunkte rund um den Erdball tun sich auf – Palästina, Großbritannien, Amerika – Einblicke in die Emigrantenwelt von gestern und immer auch in die verlassene Welt von Breslau, wo diese Menschen nicht länger leben durften – eine Stadt, die für sie alle ohne Wiederkehr bleibt.          

 

Walter Kaufmann

 

»Wir sind Juden aus Breslau«, ein Film von Karin Kaper und Dirk Szuszies, 108 Minuten.

 

 

Deutschkron-Archiv eröffnet

Das Archiv der Akademie der Künste erfährt eine wichtige Erweiterung: Am 20. November wurde das Archiv der Journalistin und Holocaust-Überlebenden Inge Deutschkron mit der Veranstaltung »Mein Leben nach dem Überleben« eröffnet. Es versammelt zukünftig neben ihren zahlreichen internationalen Buchausgaben auch Manuskripte, publizistische Arbeiten, darunter Beiträge für ausländische Zeitungen sowie die deutsche Presse, Rundfunkbeiträge, Reden und Vorträge, Interviews, Reiseberichte, Korrespondenz, Artikel und Glückwünsche zu Geburtstagen, Auszeichnungen und Plakate. Darüber hinaus stehen audiovisuelle Dokumente, Aufführungen des auf ihrer Autobiografie beruhenden Theaterstücks »Ab heute heißt du Sara« von Volker Ludwig und Detlef Michel sowie ein Dokumentarfilm über Inge Deutschkron zur Verfügung.

 

Inge Deutschkron überlebte als Jüdin die Nazizeit in Berlin im Untergrund mit Hilfe »stiller Helden«. In ihrer vielbeachteten Autobiografie »Ich trug den gelben Stern« aus dem Jahre 1978 schilderte sie den Überlebenskampf in der judenfeindlichen Reichshauptstadt. Inge Deutschkron wurde 1922 als Tochter eines sozialdemokratischen Gymnasiallehrers in Finsterwalde geboren, wuchs aber in Berlin auf. Erst als 10-jähriges Mädchen erfuhr Inge von ihrer Mutter, dass sie Jüdin sei. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurde die Familie wegen ihrer politischen Arbeit und als Juden verfolgt. Während dem Vater noch kurz vor Kriegsausbruch die Flucht nach England gelang, mussten die Mutter und Inge in Berlin zurückbleiben. Für beide begann damit ein Leben in der Illegalität oder unter fremder Identität. Inge fand dabei als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin in der Blindenwerkstatt des Kleinfabrikanten Otto Weidt Unterstützung.

 

Nach Jahren der quälenden Angst vor der Entdeckung erlebten Mutter und Tochter das Kriegsende in Potsdam und folgten 1946 dem Vater nach England. Hier studierte Inge Deutschkron Fremdsprachen und wurde Sekretärin bei der Sozialistischen Internationale. Nach Reisen nach Indien, Birma und Nepal kehrte sie 1955 nach Deutschland zurück, wo sie als Journalistin arbeitete. Doch die antisemitischen Tendenzen der deutschen Politik in den 1960er Jahren veranlassten sie, 1972 nach Israel überzusiedeln. Erst Ende 1988 kehrte Inge Deutschkron wieder nach Deutschland zurück. Seit Anfang der 1990er Jahre lebt und arbeitet sie als freie Schriftstellerin sowohl in Tel Aviv als auch in Berlin.

 

Seit Jahrzehnten setzt sich Inge Deutschkron für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und für eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft ein. Für ihr Engagement wurde sie unter anderem mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis geehrt. Auf ihre Initiative hin wurden der Förderverein »Blindes Vertrauen« und die nach ihr benannte Inge-Deutschkron-Stiftung ins Leben gerufen.              

Manfred Orlick

 

 

Coole Kids und freche Kater

»Seit langem gibt es diese Katze mit der coolen Zeitungsfratze«, hat ein Kind der im Dezember 1989 in Brandenburg an der Havel als Jugendkunstschule gegründeten Jugend-Kunst-Galerie »Sonnensegel« gereimt. Das Gedicht steht in dem soeben in einer Startauflage von 40 handgesetzten Exemplaren erschienenen Buch »Kinder kennen Klemkes Kater«. Dieses versteht sich als eine Hommage auf den 1994 verstorbenen Künstler Werner Klemke anlässlich dessen 100. Geburtstag am 12. März 2017. Im nächsten Jahr wird eine größere Auflage im modernen Buchdruck folgen.

 

Das Besondere an dieser Jugendkunstschule ist, dass ihren Gründer Armin Schubert die Idee dazu schon nach den Berliner Schriftstellertreffen 1981 und 1983 bewegte, eine Realisierung aber erst nach dem Mauerfall möglich war. Es ging dem Lehrer darum, sich mit Künstlern aus Ost und West für eine »andere kulturelle Bildung und Erziehung« einzusetzen, in welcher der Friedensgedanke das zentrale Anliegen ist.

 

Von Werner Klemke, dessen Hauptwerk in der DDR entstanden ist, stehen in nahezu jedem Bücherregal im Osten Deutschlands mindestens ein, zwei Bände, in vielen Fällen die »Kinder- und Hausmärchen« der Gebrüder Grimm. Jeder DDR-Bürger kannte das Magazin, auch wenn man sich danach »bücken« musste. 1954 hatte Werner Klemke begonnen, für die Zeitschrift zu arbeiten, und vom Januar 1955 bis Februar 1990 sind in monatlicher Folge ohne Unterbrechung 422 Titelbilder von ihm entstanden – und auf jedem war sein Kater. Weniger bekannt ist Werner Klemkes humanistischer Einsatz während des Zweiten Weltkriegs in Holland, der in dem Film »Treffpunkt Erasmus – die Kriegsjahre von Werner Klemke« dargestellt ist (s. Ossietzky 12, 18, 19/2015). Sein Talent hatte der Künstler unter Gefahr dazu benutzt, Pässe und Lebensmittelkarten für verfolgte Juden zu fälschen.

 

Innerhalb eines Jahres nun hat das Team der Jugendkunstschule der Galerie Sonnensegel mit zehn Kindern von der dritten bis zur sechsten Klasse auf der Grundlage der Klemke-Titelbilder und des Films das Buch »Kinder kennen Klemkes Kater« erarbeitet. Am 4. November konnten sie zur Buchpremiere selbst ihre darin abgedruckten Beiträge vorlesen. Die Aufgabe für die Kinder hatte darin bestanden, sich zu einigen Magazin-Titelbildern sowohl Geschichten einfallen zu lassen als auch in der von Klemke gern verwendeten Schabkunsttechnik neue Bilder zu schaffen. In dem seit dem Jahr 2000 zur Galerie gehörenden Druck-Laden haben sie selbst per Hand gesetzt und gedruckt. Entstanden ist ein Buch »von intelligenten Kindern für kluge Erwachsene« zum Zwecke der »ästhetischen Erziehung der nächsten Generation«, wie Armin Schubert in seiner Begrüßung zur Buchpremiere ausführte. Zu deren prominentesten Gästen gehörten der Bundesminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und der Sohn des Künstlers, Christian Klemke. Gefördert wurde das Projekt vom Brandenburger Kulturministerium, dem Verband der Musik- und Kunstschulen, dem Friedrich-Bödecker-Kreis, vertreten durch den Schriftsteller Till Sailer, und nicht zuletzt der Pirckheimer-Gesellschaft für Bibliophilie und Buchkunst Berlin, deren Vorsitzender Ralph Aepler anwesend war.                            

Elke Lang

 

 

Jahrhundertgeschichten

Die ältlichen Schwestern Claudia und Barbara Schaechter wohnen – ein bisschen idyllisch oder gar spießig – wieder im Haus der Eltern in der Berliner Siedlung Eintracht. Mit dem früheren Nachbarjungen Werner Kapok verbinden sie Kindheits- und Jugenderlebnisse in der DDR. Nach der Wende verschwand Werner und taucht erst nach Jahrzehnten wieder auf. Im Gegensatz zum beschaulichen Siedlungsalltag sind es Jahrhundertgeschichten, auf die Kathrin Schmidt ihre Protagonisten zurückblicken lässt, eingeschlossen die Erlebnisse der Eltern Schaechter, die das Moskauer Exil überlebten und auf ihre Weise linke Familientraditionen fortsetzten und pflegten.

 

Man muss sich einlesen in diesen Roman, der fast widerwillig die Geheimnisse der einzelnen Familienmitglieder entblößt, weil auf allem der Schleier des normalen Alltags liegt. Dabei schätzt die Autorin Genauigkeit – auch bei historischen Fakten bis hin zu Produktmarken. Sie entwirft ein Jahrhundertbild, das es zumindest in der Literatur der letzten Jahre so nicht gab. Die Schaechters sind weder Karrieristen noch Dogmatiker, sondern vernünftige, kluge Leute mit kritischem Blick. Weil Internationalisten, spielte für sie ihre »jüdische Seite« scheinbar keine Rolle, und doch ist sie präsent, nicht nur in den Beziehungen zu weit verstreuten Verwandten.

 

Sie lohnt sich, diese nicht immer leichte Lektüre.       

       

Christel Berger

 

Kathrin Schmidt: »Kapoks Schwestern«, Kiepenheuer & Witsch, 444 Seiten, 22 €