An jenem Donnerstag, an dessen frühen Abend die SPD begeistert ihr Sterbebett aufschüttelte, war ich mittags auf dem Weg von der Carl-von-Ossietzky-Bibliothek nach Hause. Als ich über die Elbbrücken fuhr und den Deutschlandfunk anschaltete, erkannte ich die Stimme nicht sofort – sie ist brüchiger geworden, resignativ. »Ich kann sehr gut verstehen, welche Bauchschmerzen die Jusos damit haben«, tönte sie aus dem Lautsprecher, »und wenn ich zurückdenke an meine eigene Jugend, hätte ich wahrscheinlich ein ähnliches Problem mit dem, was jetzt auf die SPD zukommt.«
Ja, die Jusos wollten an diesem Donnertagnachmittag auf dem Parteitag der SPD jede neue GroKo mit der CDU ausschließen. Martin Schulz spiele mit der Existenz der Partei, wenn er sich darauf einließe, hatte am Morgen ebenfalls im Deutschlandfunk der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert gesagt.
Und der Mann, der dessen Bauchschmerzen so gut verstehen kann, ist Johano Strasser, selber einmal von 1970 bis 1975 Stellvertretender Juso-Chef und seither, nun schon siebenundvierzig Jahre lang, erfahrenes Mitglied der Grundwertekommission der SPD in all ihrem Handel und Wandel. Achtzehn lange Jahre war er zuerst Generalsekretär und dann Präsident des deutschen PEN – es gelang ihm aus der Schriftstellervereinigung einen tüchtigen Ortsverein der SPD zu machen. Das bekamen wir zu spüren, der ehemalige PEN-Präsident Christoph Hein und ich. Wir erfuhren die sozialdemokratischen Grundwerte, als wir im Mai 2000, mitten in Schröders Krieg gegen Jugoslawien, auf dem PEN-Jahreskongress einen Antrag einbrachten, der Generalsekretär Strasser als Landesverrat erscheinen musste: Kritik an der Kriegsberichterstattung der Medien. Er verschob die Behandlung des Antrags auf die letzten zehn Minuten des letzten Tages, erklärte als Versammlungsleiter, alles sei falsch, was in der Resolution stehe, den »serbischen Hufeisenplan« beispielsweise – das habe ihm Verteidigungsminister und Parteifreund Rudolf Scharping bestätigt – habe es doch gegeben. Und marschierte im Eiltempo – das Mittagessen wird kalt – durch zur Abstimmung: Das 78-fache Nein zu unserem Antrag bei neun Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen war ein überzeugender Erfolg seiner Manipulationskraft, damals.
Heute, auf dem SPD-Parteitag, wären Juso-Bauchschmerzen ebenso überflüssig gewesen wie die ganze Veranstaltung. Die Diskussion über eine neue GroKo wäre nicht notwendig, wenn die SPD-Führung zehn Tage zuvor entschieden und schnell reagiert hätte. Da wurde bekannt, dass ihr CSU-Ministerkollege Christian Schmidt in Brüssel für die Zulassung des Acker- und Menschengiftes gestimmt hatte. Entgegen der Kabinettsdisziplin, die eine Enthaltung erfordert hätte, weil die SPD-Umweltministerin gegen die Anwendung dieses krebserzeugenden Pflanzenvernichtungsmittels von Monsanto und Bayer war. Die sich uneingeweiht gebende Kanzlerin tadelte den Minister ein wenig, beließ ihn aber demonstrativ im Kabinett. Und schon zehn Tage später hörte ich in der Diskussion auf dem SPD-Parteitag nur zweimal kurz des Wort Glyphosat.
Dabei war allein mit dem Verbleiben von Schmidt im Kabinett jede Frage nach der Koalitionsfähigkeit der Union obsolet geworden. Und es hätte diesen Parteitag nicht gebraucht, wenn die SPD sofort das geschäftsführende Kabinett verlassen und so Neuwahlen erzwungen hätte. Mit einem Wahlkampf, indem sie – wahrheitsgemäß – verkündet hätte, dass die Union uns allen mit ihrem Votum für Glyphosat den Krebstod beschert. Sie hätte nicht nur die desillusionierten Jamaika-Grünen und die Linke auf ihrer Seite, sie hätte so auch Neuwahlen gewonnen. Hätte, hätte, hätte. Doch ihr fehlte der Mut. Mut? Nein, der Überlebenswille. Die SPD hat sich, als Merkel ihren Schmidt im Kabinett beließ, schon mal aufs Sterbebett gelegt.
Am Mittag im Deutschlandfunk hatte die Moderatorin den SPD-Grundwertekommissar noch gefragt, ob er sich erklären könne, warum »die Jungen in Ihrer Partei da so viel skeptischer sind als, ich sage mal, die älteren erfahrenen Kollegen?« Johano Strasser antwortete: »Das ist schwer zu erklären. Möglicherweise kriegt man einen Blick auf längere Strecken, wenn man älter wird, wenn man selbst eine längere Strecke der Lebenserfahrung hinter sich hat.« Die Moderatorin: »Muss ja deswegen nicht richtiger sein.« Strasser: »Nein, das ist häufig so, und ich glaube auch, dass die Mehrheit der SPD-Delegierten sich diesen Argumenten beugen wird.«
Muss nicht richtiger sein. Aber er glaubt, nein, er weiß, dass die Mehrheit sich beugen wird. So kenn ich ihn. Vor zehn Jahren schon schrieb der Sozialdemokrat Johano seine zuweilen auch amüsanten Memoiren. Am Schluss aber heißt es: »In meiner Erinnerung stoße ich zwischen den vielen Resten gescheiterter Hoffnungen immer noch hier und da auf uneingelöste Versprechen. Leben ist mehr als Überleben.«
Die SPD hat überlebt. Er hat überlebt. Seine Erinnerungen aber tragen den schönen Titel: »Als wir noch Götter waren im Mai«.
Vorbei die Götter. Armer Teufel Johano, armer Teufel SPD. Das war‘s.