Dass das bloß solche Geschichten bleiben,
die man den Enkeln erzählen kann,
es gibt ´ne Menge Leute, die hätten großes Interesse daran.
Franz Josef Degenhardt, LP »Im Jahr der Schweine«, 1969
Und was waren das für Geschichten in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts! Geschichten von Hass und Verfolgung, von Infamie und Verleumdung, Häme und Bigotterie, von Bedrohung und Diffamierung, Geschichten voller Bosheit, die heute so in keinem Schulbuch stehen, die den meisten der Nachgeborenen weitgehend unbekannt sind, obwohl sie damals die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland umgetrieben haben, polarisierten. Aber dann gehen Jahrestage, Gedenktage ins Land, und plötzlich lichtet sich der Schleier. Was einmal war, bleibt nicht »bloß solche Geschichten«. Vergessenes tritt hervor und mit ihm die Erinnerungspersönlichkeiten. So wie jetzt:
Am 8. Oktober jährte sich zum 25. Mal der Todestag des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, des Außenministers, ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, Friedensnobelpreisträgers (1971) und SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, der 1992 im Alter von 78 Jahren in seinem Wohnort Unkel bei Bonn starb und seine letzte Ruhe auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in Berlin fand.
Am 21. Dezember wäre der »friedlich-streitbare« (Die Zeit), leidenschaftlich-politische Einmischer, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger (1972) Heinrich Böll 100 Jahre alt geworden. Er starb am 16. Juli 1985 nur 67-jährig in seinem Haus in Langenbroich in der Eifel und wurde in Merten bei Köln beerdigt.
Willy Brandt und Heinrich Böll: »Zwei Menschen, die von ihrer Herkunft einander so fremd waren und die dennoch gemeinsam, jeder auf seine Art, die junge Bundesrepublik aus der Adenauer’schen Erstarrung gelöst … haben«, »die beide von deutschen Konservativen verunglimpft wurden, der eine als ewiger Emigrant, der andere als literarischer Nestbeschmutzer.« (Wie die Süddeutsche Zeitung am 1. Dezember meldete, wurde der Außenminister und Vizekanzler Brandt vom BND umfangreich geheimdienstlich überwacht; Dokumente aus einem bislang geheimen Nachlass des ersten BND-Chefs Reinhard Gehlen, die der Zeitung vorliegen, würden das belegen. In der SPD-Zentrale sei ein Spitzel platziert worden, der auch für die CIA gearbeitet habe. Verleumdungen Brandts, in dem Gehlen [wie viele andere Konservative; K. N.] einen Landesverräter sah, sollen ebenfalls hier ihren Ausgangspunkt haben.)
Das oben aufgeführte Zitat stammt aus dem im Oktober 2017 erschienenen Buch »Mut und Melancholie – Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD, eine Beziehung in Briefen, Texten und Dokumenten« von Norbert Bicher, Journalist und Sprecher des am 19. Dezember vor fünf Jahren in Berlin gestorbenen vormaligen Bundesverteidigungsministers (2002 bis 2005) Peter Struck. Bicher zeichnet darin das Verhältnis der beiden großen Gestalten Nachkriegsdeutschlands nach, schildert es als von tiefer Sympathie und gegenseitiger Unterstützung geprägt. Seine Dokumentation ist allen politisch und zeitgeschichtlich Interessierten ans Herz zu legen (oder auf den weihnachtlichen Gabentisch).
Der Briefwechsel zwischen dem Politiker und dem Literaten führt tief hinein in den »Deutschen Herbst« des Jahres 1977 und seine Vorgeschichte, in jene »bleierne Zeit«, für die Menetekel wie die Ermordung Hanns Martin Schleyers, Präsident der Arbeitgeber- und der Industrieverbände, in brauner Zeit SS-Führer, und die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs »Landshut« nach Mogadischu stehen. Aber auch die sogenannte Todesnacht von Stammheim: Im Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart war Ulrike Meinhof im Mai 1976 gestorben, im Oktober 1977 folgten ihr die RAF-Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in den Tod.
Der »starke Staat« und seine publizistischen Helfershelfer verfolgten nicht nur unbarmherzig die terroristischen Gegner, die ihrerseits mehr und mehr gnadenlos agierten, sondern auch all jene, die als Sympathisanten verdächtigt wurden. Und das konnte schon sein, »wer Baader-Meinhof-Gruppe statt -Bande sagt« (so der damalige rheinland-pfälzische CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel). Anfang 1972 geriet Heinrich Böll ins Visier, sein Haus in der Eifel – in dem Alexander Solschenizyn 1974 nach seiner Abschiebung aus der Sowjetunion Zuflucht fand – wurde »in einer Art Blitzaktion von Polizeibeamten (wahrscheinlich von der Sicherungsgruppe Bonn) umstellt …, während ein Kriminalkommissar mit einem Kollegen meine Gäste aufforderte, sich auszuweisen« (Briefauszug Böll).
Es war der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne, für die Böll auch Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesinnenminister, verantwortlich machte. Ausgangspunkt war ein Spiegel-Artikel vom 10. Januar 1972, in der Dokumentation abgedruckt, von Böll »So viel Liebe auf einmal« betitelt, vom Spiegel mit der Überschrift »Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit« versehen: eine zornige Reaktion auf die damalige Berichterstattung der Bild-Zeitung und ihren Verleger Axel Springer. Bölls Anliegen: Auch für RAFler sollte die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils gelten. Böll forderte den Staat auf, gegenüber der Baader-Meinhof-Gruppe, »einer Handvoll junger Krimineller«, der damals vor allem Bank-Überfälle angelastet wurden, »die gleiche Gnade aufzubringen, die er zuvor gegenüber Naziverbrechern gezeigt hatte« (zitiert nach N. Bicher).
Ein politischer und medialer Sturm brach los, den zu schildern hier nicht der Raum ist (nachlesbar in dem noch antiquarisch erhältlichen Sammelband »Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen«). Wie sehr er Böll getroffen hat, mag ein Brief an seinen Schriftsteller-Kollegen Günter Grass vom 2. Juni 1972 belegen, an dessen Ende es heißt: »Und kommen Sie mir nicht mit Hysterie und Nerven verlieren: Meine Nerven habe ich zwischen 1933 und 1945 verloren; ich kenne meine Frau seit 35 Jahren und seit 30 Jahren bin ich mit ihr verheiratet, und ich weiß, wenn sich ihr der Magen umdreht, ist schwere Gefahr im Verzuge …«
Für die vielen, die Böll nicht alleinließen und sich auf Protestdemonstrationen mit ihm solidarisierten, war jedoch klar: Die Angriffe galten auch der Regierung Brandt. Die Springer-Presse wollte eine politische Wende.
Vier Monate später sprach Heinrich Böll auf dem SPD-Bundesparteitag in Dortmund im Namen der Sozialdemokratischen Wählerinitiative, einer »Gegengewalt von Bürgern, die erschrocken über den finanziellen Aufwand, der gegen Sie (Willy Brandt, Anm. K. N.) mobilisiert wird, erkennen, was auf dem Spiel steht: der Übergang von einer Unternehmer- zu einer Arbeitnehmer-, von einer von Vorurteilen bestimmten zu einer aufgeklärten Gesellschaft«. Die Rede trug den Titel: »Gewalten, die auf der Bank liegen«.
Wenige Tage später antwortete Willy Brandt bei einem Wahlkampfauftritt in Köln: »Es ist schön, dass ich hier Gelegenheit habe, dem Nobelpreisträger Heinrich Böll vor vielen Augen und Ohren zu sagen, wie sehr wir uns mit ihm und für ihn über die Auszeichnung gefreut haben, die ihm zuteil geworden ist … Wir sind Heinrich Böll für die Hilfe dankbar, die er uns durch sein Schreiben und Reden, vor allem durch seine Fragen, sein Zweifeln und seine Mahnung bietet. Und wir wünschen ihm weiterhin viel Gutes.«
Hier wuchs zusammen, was zusammengehörte: Nicht nur aus »Mut und Melancholie«, wie der Buchtitel nahelegt, sondern vor allem aus Wut und Sympathie. Es ist die »Einigkeit der Einzelgänger«, eine Formulierung wie sie Böll 1970 als frisch gekürter PEN-Präsident auf dem ersten Kongress des Verbandes deutscher Schriftsteller für seine Rede wählte, in Anwesenheit von Willy Brandt.
*
Der 100. Geburtstag Heinrich Bölls soll auch Anlass sein, an sein umfangreiches schriftstellerisches und essayistisches Schaffen sowie an seine großen Reden zu erinnern, mit denen er auf Kundgebungen und Demonstrationen der Friedensbewegung auftrat oder, als gläubiger Katholik, der katholischen Kirche die Leviten las (siehe auch Ossietzky 5/2017 »Ästhetik, Literatur und Zeitkritik«). Der erste Verlagsvertrag und die erste Buchveröffentlichung (»Der Zug war pünktlich«) stammen aus dem Jahr 1949. 1951 erfolgt die erste Einladung zu einer Tagung der Gruppe 47. Wenn auch so manches seitdem erschienene Werk etwas aus dem Blickfeld geraten ist und von der Thematik her wie aus der Zeit gefallen scheint, so gilt Böll inzwischen doch als wichtigster Autor der Nachkriegszeit. Er ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren aus jener Zeit, deren Bücher internationale Anerkennung fanden, trotz des Kalten Krieges auch in der UdSSR und der DDR.
Die Titel einzelner Romane und Erzählungen haben längst Eingang gefunden in Sammlungen von Zitaten und Redewendungen und damit ins Alltagsbewusstsein.
Wir sprechen heute vom »Ende einer Dienstfahrt« (1966 erschienen), wenn eine Entwicklung zum Schluss oder Abbruch gekommen ist; von einem »Gruppenbild mit Dame« (1971), wenn auf dem Foto mal wieder fast nur Männer und eine einzige Frau zu sehen sind; von einem »Haus ohne Hüter« (1954), wenn einem Vorgang eine ordnende Hand fehlt; wir zitieren ironisch »Und sagte kein einziges Wort« (1953), wenn jemand sich partout nicht äußern will; wir fragen »Wo warst du, Adam« (1951), wenn jemand zu spät kommt; und wir haben als Pennäler in der Deutschstunde vielleicht über dem Titel »Wanderer, kommst Du nach Spa …« des 1950 erschienen Bandes mit Erzählungen grübeln müssen, den man als Aufforderung verstehen kann, beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses seine Meinung zu sagen oder etwas zu tun. Vielleicht aber vertritt er bloß die »Ansichten eines Clowns« (1963; noch viel mehr »Zitate und Aussprüche« lassen sich in dem gleichnamigen Duden, Band 12, finden).
Vielleicht erinnern sich die Älteren unter den Leserinnen und Lesern an die Erzählung »Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann« (1974), an die »Berichte zur Gesinnungslage der Nation« (1975), an den Roman »Fürsorgliche Belagerung (1979) – die Buchtitel zeigen, was Böll damals umtrieb. Sein letzter, einen Monat nach dem Tode erschienener Roman »Frauen vor Flusslandschaft« ist dann schon der vorweggenommene Abgesang auf die Bonner Republik.
Selbstverständlich, zwei Erzählungen dürfen in dieser Aufzählung nicht fehlen: »Nicht nur zur Weihnachtszeit« (1952), diese nach damaliger Pfarrermeinung »Verunglimpfung des deutschen Gemüts«, und »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen« (1958), dessen Hörspielfassung von 1986, unter anderem mit Henning Venske und Hilmar Thate, am kommenden 26. Dezember, 20.05 Uhr, vom Deutschlandfunk gesendet wird. Wie überhaupt zahlreiche Sendungen, Aufführungen und öffentliche Lesungen zu Heinrich Böll zurzeit bundesweit stattfinden. Ein Blick in den örtlichen Kulturkalender oder in die Programmzeitschrift (mit Radio-Teil oder unter www.hördat.de) könnte hilfreich sein. Bölls Bücher erscheinen seit 1952 im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Die Website www.boell100.com hat zum Ziel, alle Veranstaltungen, Veröffentlichungen, Lesungen, Theateraufführungen sowie Funk- und Fernsehsendungen zu Bölls 100. Geburtstag aufzulisten.
Norbert Bicher: »Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten«, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., 248 Seiten, 22 €