Zweifel an der Spiegel-Berichterstattung, mal wieder: Kürzlich suggerierte ein Spiegel-Team, beim Hamburg-Besuch der ehemaligen italienischen Senatorin Haidi Giuliani zum G20 ganz dicht dran gewesen zu sein. An der Mutter des beim Staatschef-Gipfel 2001 in Genua von der Polizei mit einem Kopfschuss getöteten Carlo Giuliani: »Sie sah den Rauch, den Tumult, die Einsatzwagen aus sicherer Entfernung von ihrem Hotelzimmer am Hamburger Hauptbahnhof aus«, schreibt der Spiegel. Zudem wissen die Spiegel-Leute über die Demos gegen G20 zu berichten: »Sie [Giuliani, O.N.] selbst marschierte nicht mit.«
Tatsächlich war Giuliani an den Tagen, als Aktivisten brennende Barrikaden errichtet hatten und »Rauch«-Säulen weithin über der Stadt sichtbar waren, gar nicht in Hamburg. Das trug sich unstreitig am Abend des 7. Juli zu, gegen 20 Uhr. Giuliani: »Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit meinem Hund Gassi gegangen, in Genua. Während meines Aufenthalts in Hamburg habe ich zu keinem Zeitpunkt Tumult oder Rauch gesehen, schon gar nicht von meinem Hotelzimmer aus. Und ich habe weder in meinem Zimmer noch sonst in Hamburg jemand vom Spiegel getroffen.«
Giuliani hielt sich vom Abend des 4. Juli bis zum frühen Morgen des 6. Juli in Hamburg auf. In dieser Zeit gab es nachweislich keine größeren Konfrontationen, keine Straßenschlachten. Keinen »Tumult«, keinen »Rauch«. Und während ihrer Stippvisite an der Alster verschanzte sich die 73-jährige auch nicht in ihrer Herberge, sondern war in der Stadt unterwegs: gab Interviews, traf Anti-G20-Aktivisten. Und sie trat bei einer konzertanten Lesung des Literaturfestivals »Lesen ohne Atomstrom« auf. Diese Einladung war der Grund ihres Hamburg-Besuchs.
Und mehr noch: Giuliani »marschierte« in Hamburg. Am Abend des 5. Juli führte sie eine Demonstration an, die vor den G20-Tagungsort zog. In der ersten Reihe trug die schmale Frau gemeinsam mit den Künstlern das Banner der Demonstranten: »Empört Euch gegen G20!« Mehr als 3000 Menschen folgten, der »Marsch« wurde live im Internet übertragen, bundesweit berichteten Medien. Zudem filmte ausgerechnet ein Kamerateam von Spiegel TV die »marschierende« Giuliani, minutenlang. Doch laut Spiegel »marschierte sie nicht mit«, blickte vielmehr aus dem »sicheren« Hotel auf das vermeintlich »rauchende« Hamburg.
Derweil war der ganz reale, laut Deutschlandfunk »berührende« Auftritt Giulianis bei der Lesung keine Nachricht für das »Nachrichtenmagazin«. Ebenso hatte der ganz reale Offene Brief der Genueser Ex-Senatorin an den Hamburger Bürgermeister für den Spiegel keinen News-Wert. Darin warnte die Italienerin mit Hinweis auf die Genua-Ereignisse: »Herr Bürgermeister, schützen Sie bitte Ihr schönes Hamburg. Dafür reicht es, klar Nein zu G20 zu sagen!« Bekanntlich kam es anders.
»Die Wahrheit von Haidi Giulianis Hamburg-Besuch, zu dem unser Literaturfestival sie eingeladen hatte, ist etwas völlig anderes als das, was der Spiegel sich ausgedacht hat«, sagt Frank Otto für die »Lesen ohne Atomstrom«-Organisatoren. Der Medienunternehmer ist seit mehr als 20 Jahren im Vorstand des Hamburger Presseclubs – und konsterniert über den Spiegel-Stil: »Mindestens zwei der Darstellungen zu Haidi Giuliani sind frei erfunden, entsprechen nachweislich nicht der Wahrheit. Warum ergeht sich der Spiegel in wilder Phantasie während die grad vom Spiegel unablässig beschworene ›Wahrheit‹ doch in diesem Fall so unendlich viel spannender war?«
Diese Frage wollten Otto und seine Festival-Mitstreiter mit Chefredakteur Brinkbäumer, dessen Magazin ausweislich einer Werbebotschaft »keine Angst vor der Wahrheit« hat, besprechen – vergeblich. Nach elf Wochen melden sich Brinkbäumers Rechts- und Presseabteilung schriftlich. Und »bedauern Missverständnisse«, wie jene Beschreibung des vermeintlichen Giuliani-Blicks aus dem »sicheren« Hotelzimmer«. Aber: Wo das Geschehen war – Hamburg oder Genua – ist für den Spiegel ohnehin nicht entscheidend: »Ob die sichere Entfernung nun ein Hotel [in Hamburg, O. N.] oder ihr Zuhause [in Genua, O. N.] war, scheint für den Inhalt des Textes zweitrangig.« Auch die falsche Darstellung des angeblichen Nicht-Demonstrierens sei »bedauerlich«, diese Angabe beruht angeblich auf einer Aussage von Giuliani selbst – weshalb, so der Spiegel, in dem Artikel auch »folgerichtig indirekte Rede« verwendet worden sei. Was wiederum zweifelsfrei ein »Missverständnis« der Grammatik ist, beim Spiegel: Der Satz »Sie selbst marschierte nicht mit« ist gerade nicht indirekte Rede, fehlt doch der Konjunktiv. Überdies bestreitet Giuliani die ihr zugeordnete Aussage: »Ich weiß sehr wohl, was ich in Hamburg getan habe. Unter anderem durfte ich mit beeindruckend engagierten Künstlern, die ich nicht jeden Tag treffe, demonstrieren.«
Die Stuttgarter Zeitung sah beim Spiegel schon früher eine »fragwürdige Art des Geschichtenerzählens«. Was dem langjährigen Deutschlandfunk- Chefredakteur Rainer Burchardt im aktuellen Fall allerdings eine zu milde Wertung ist: Die Darstellungen des Spiegel zu Giuliani seien »nach Lage der Dinge Fake News«, so der Kieler Medienprofessor: »Diese systematischen Erfindungen des Spiegel sind handwerklich desaströs. Und sie sind auch heikel, weil solche Inszenierung von Journalismus das Vertrauen in die Medien untergräbt.«
Burchardt scheint mit der Einschätzung, dass es sich um eine Systematik beim Spiegel handelt, richtig zu liegen: Denn auch der Hamburger Buchhändler Peter Haß spricht von »Erfindungen des Spiegel«. Er war wie Giuliani Bestandteil des G20-Berichts der Hamburger Zeitschrift. Haß ist Kenner der Autonomen-Szene, bewertet die militanten Auseinandersetzungen um den G20 differenziert. Für den Spiegel aber ist es deutlich einfacher: »Apo-Rentner wie der 70-jährige Peter Haß (…) haben Verständnis für den radikalen Nachwuchs.« Dazu Haß: »Das habe ich nie gesagt.« Und weiter: »Um Missverständnisse zu vermeiden, hatte ich mit der Redakteurin des Spiegel, die mich befragt hat, vereinbart, dass ich den zur Veröffentlichung vorgesehenen Text vor dem Druck sehen kann. Der mir vorgelegte Text war korrekt, und ich habe ihn so freigegeben. Allerdings stand da der Satz mit dem ›Verständnis für den radikalen Nachwuchs‹ nicht drin. Der Satz ist ja auch nicht von mir. Der wurde vom Spiegel später hinzugedichtet.« Haß wollte anschließend vom Spiegel eine Erklärung. Die fiel lapidar aus: »Die Spiegel-Redakteurin, die mit mir gesprochen hatte, sagte mir, dass es immer sein kann, dass die Chefredaktion nachträglich etwas verändert.«
Für Konstantin Wecker ist dieses Verständnis von Journalismus grotesk: »Ein derartig systemfrommer Stimmungsjournalismus ist schlimm. Fast noch schlimmer aber, dass eine Privatperson wie Haidi Giuliani mit Lügen bloßgestellt und quasi als Voyeurin der Gewalt öffentlich angeprangert wird. Eine derartige Hexenjagd erinnert an dunkle Zeiten, in denen etwa Heinrich Böll seinen medienkritischen Roman ›Die verlorene Ehre der Katharina Blum‹ veröffentlichte.«
Der Autor Oliver Neß ist Sprecher des Literaturfestivals »Lesen ohne Atomstrom«.