In einer dreiteiligen Serie skizziert der Autor Formen der sozialen Ausgrenzung in Deutschland und stellt seinen Forderungskatalog zur Beseitigung dieser Ausgrenzung vor. Teil III widmet sich der Armut im Alter.
Wirkt die Kinderarmut deshalb besonders demütigend, erniedrigend und deprimierend, weil davon Betroffene gar nicht erst die Chance eines guten Starts ins Leben erhalten und wahrscheinlich nie in die mittleren oder höheren Etagen der Gesellschaft aufsteigen, ist die Altersarmut deshalb besonders niederschmetternd, weil davon Betroffene um den Lohn für ihre Lebensleistung gebracht werden. Sie haben keine Aussicht mehr, ihrer sozialen Misere zum Beispiel durch Aufnahme einer gut bezahlten Erwerbstätigkeit zu entkommen. Gemeinsam haben beide Armutsformen, dass sie von den Massenmedien ebenso wie von den politisch Verantwortlichen heruntergespielt, verharmlost und beschönigt werden.
Der im April 2017 erschienene Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht beruhigt die Öffentlichkeit mit folgender Feststellung: »Die Altersgruppe der Ab-65-Jährigen ist durchschnittlich weniger von Armutsgefährdung betroffen als die Gesamtbevölkerung. Die Armutsrisikoquote und der Anteil der von erheblicher materieller Deprivation Betroffenen im Alter ab 65 Jahren ist deutlich niedriger als in der Gesamtbevölkerung.« Dass die Armuts(risiko)quote und der Transferleistungsbezug in keiner Altersgruppe so stark wachsen wie unter den Senior(inn)en, erfährt der Leser des Regierungsberichts nicht. Seit die Grundsicherung im Alter am 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der auf sie angewiesenen Menschen mehr als verdoppelt. Am 31. Dezember 2016 waren es knapp 526.000 Ältere, die Leistungen auf dem Hartz-IV-Niveau erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich besonders ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge beziehungsweise Sozialhilfe – zu beantragen, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlich den (bis zu einem Jahreseinkommen in Höhe von 100.000 Euro ausgeschlossenen) Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder und Enkel fürchten. Geht man davon aus, dass die sogenannte Dunkelziffer sehr hoch ist, liegt die Zahl derjenigen Menschen, die im Alter auf Hartz-IV-Niveau (bundesdurchschnittlich: 799 Euro pro Monat) leben, inzwischen deutlich über einer Million.
Die Einkünfte von 2,7 Millionen Senior(inn)en liegen unter der EU-offiziellen »Armutsrisikoschwelle« von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Kein Wunder, dass es mehr als eine Million Ruheständler/innen gibt, die einen Minijob haben, mit dessen Lohn von maximal 450 Euro im Monat die meisten ihre kleine Rente aufstocken dürften, darunter über 221.000 Personen, die 75 Jahre oder älter sind. Man fragt sich unwillkürlich, was diese Senior(inn)en eigentlich machen, wenn sie pflegebedürftig werden und nicht mehr arbeiten können und/oder als Hochbetagte vermutlich erheblich mehr Geld für medizinische (Spezial-)Behandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel brauchen?
Armut im Alter hat zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im Allgemeinen sowie die Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Besonderen. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- und Midijobs, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sowie die Liberalisierung der Leiharbeit.
CDU, CSU und SPD haben nicht bloß im Hinblick auf die Bekämpfung der Kinderarmut, sondern auch bezüglich einer Verhinderung des Anstiegs der Altersarmut versagt. Zwar sorgte die Große Koalition erstmals seit 1972 wieder für Leistungssteigerungen in der Rentenpolitik, die beiden Hauptziele der Lebensstandardsicherung und der wirksamen Armutsbekämpfung haben CDU, CSU und SPD aber gleichermaßen verfehlt. Weder die verbesserte »Mütterrente« für Frauen, die vor dem 1. Januar 1992 Kinder geboren haben und dafür einen zweiten Entgeltpunkt angerechnet bekommen, noch die »Rente ab 63« für besonders langjährig Versicherte (mindestens 45 Beitragsjahre, zu denen neben Kinderberücksichtigungs- und Pflegezeiten auch bestimmte Zeiten der Arbeitslosigkeit zählen), die vorzeitig abschlagsfrei in den Ruhestand gehen können, waren unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung zielführend. Die gerade unter älteren Frauen verbreitete Armut kann eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip nicht beseitigen, zumal Grundsicherungsbezieherinnen überhaupt nicht in den Genuss des zweiten Entgeltpunktes oder des entsprechenden Zuschlags auf ihre Altersrente gelangen, weil er auf die Transferleistung angerechnet wird. Und wer 45 Beitragsjahre aufweist, ist eher selten von Altersarmut bedroht, sondern häufiger Facharbeiter in einem Großbetrieb oder Angestellter im öffentlichen Dienst.
Der zunehmenden Altersarmut traten CDU, CSU und SPD nicht einmal durch den im Koalitionsvertrag angekündigten kärglichen Rentenzuschuss für jahrzehntelang versicherte Geringverdiener/innen mit dem wohlklingenden Namen »Solidarische Lebensleistungsrente« entgegen. Nur die leichten Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, von denen Bestandsrentner/innen allerdings nicht profitieren, und die langfristige Ost-West-Angleichung der Renten können die Armut bestimmter Personengruppen mildern.
Höchst problematisch ist hingegen die Aufwertung der betrieblichen Altersvorsorge, weil sie mit einer weiteren Schwächung der Gesetzlichen Rentenversicherung durch die Ausweitung der sogenannten Entgeltumwandlung verbunden ist. Tarifgebundene Unternehmen werden aus der Arbeitgeberhaftung für die betriebliche Altersvorsorge und die Garantiepflicht einer Mindestleistung entlassen. Zwar ist der Arbeitgeber fortan gehalten, für in seinem Unternehmen beschäftigte Arbeitnehmer einen »Sicherungsbeitrag« in Höhe von mindestens 15 Prozent des bei Entgeltumwandlung sozialabgabenfreien Lohn- oder Gehaltsanteils an die Versorgungseinrichtung zu zahlen. Durch die entfallenden Arbeitgeberbeiträge und die reine Beitragszusage wird er gegenüber der früher üblichen Leistungszusage aber deutlich entlastet.
Dass die Union den Wahlkampf ohne rentenpolitisches Konzept bestritt, weil sie auf diesem Politikfeld bis zum Jahr 2030 von der Bundesregierung gar keine weiteren Maßnahmen mehr für nötig hält, eine Kommission sich vielmehr Gedanken über die Zeit danach machen soll, lässt wenig Sensibilität gegenüber dem Problem der Altersarmut erkennen. In dem »Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben« überschriebenen CDU/CSU-Regierungsprogramm ist zwar von dem Bemühen die Rede, »weiterhin Altersarmut zu vermeiden«, aber nicht von deren Bekämpfung, Verringerung und Beseitigung.
Weiterentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung
Soll die bestehende Altersarmut verringert und das Entstehen von weiterer Altersarmut verhindert werden, ist ein arbeitsmarkt-, sozial- und rentenpolitischer Paradigmenwechsel nötig. Gegenstrategien sollten an mehreren Stellschrauben ansetzen. Um die beiden Hauptübel (Destabilisierung des Rentenniveaus und Deregulierung des Arbeitsmarktes) zu beseitigen, müssen die sogenannten Dämpfungsfaktoren (»Riester-Treppe«, »Nachhaltigkeitsfaktor« und »Nachholfaktor«) aus der Rentenanpassungsformel entfernt, die Anhebung der Regelaltersgrenze und die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge rückgängig gemacht sowie die Beschäftigungsverhältnisse entprekarisiert werden. Auch sollte die Bundesagentur für Arbeit für Hartz-IV-Bezieher/innen wieder Rentenversicherungsbeiträge abführen.
Den durch Deregulierungsmaßnahmen induzierten Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesene Menschen darstellen, oder sie zu (Solo-)Selbstständigen gemacht haben, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht Rechnung getragen werden. Da abhängige und selbstständige Arbeit, Selbstständigkeit und sog. Scheinselbstständigkeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen oder zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker/innen, Künstler/innen und freie Berufe). Wenn man davon ausgeht, dass nur individualisierte Versicherungslösungen der gesellschaftlichen Entwicklung und den heutigen Werthaltungen angemessen sind, müssen auch erwachsene Nichterwerbstätige einer Mindestbeitragspflicht unterworfen werden.
Eine solidarische Bürger- beziehungsweise Erwerbstätigenversicherung würde dem Rechnung tragen. Solidarisch zu sein meint, dass die Bürgerversicherung zwischen ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellen muss. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten – also auch Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung: Dividenden, Veräußerungsgewinne und Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse – sind Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen. Vielmehr könnten diese als Wertschöpfungsbeitrag (»Maschinensteuer«) erhoben und damit gerechter als bisher auf beschäftigungs- und kapitalintensive Unternehmen verteilt werden. Nach oben darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen. Nach unten muss finanziell aufgefangen werden, wer die nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beiträge nicht entrichten kann. Nur im Falle fehlender, vorübergehender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit der Versicherten hätte also der Staat die Aufgabe, Beiträge bedarfsbezogen zu »subventionieren«, das heißt aus dem allgemeinen Steueraufkommen zuzuschießen. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat gewissermaßen als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schüler/innen und Studierende, die einen Kindergarten, eine allgemeinbildende Schule bzw. eine Hochschule besuchen, sowie für andere Menschen, die ehrenamtlich tätig sind.
Bürgerversicherung bedeutet, dass Mitglieder aller Berufsgruppen, das heißt nicht nur abhängig Beschäftigte, aufgenommen werden. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Es geht darum, die Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems zu verbreitern, aber auch darum, den Kreis seiner Mitglieder im Sinne der Schaffung eines inklusiven Sozialstaates zu erweitern.
Bürgerversicherung schließlich bedeutet, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau der Versicherung beteiligt. Die geplante Bürgerversicherung würde allerdings zum Einfallstor für einen Systemwechsel, wenn sie vollständig aus Steuermitteln finanziert würde.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher »Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung« (Campus), »Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition« (Springer VS) und »Armut« (PapyRossa) erschienen.