Lob für Oskar Negt. Es kommt von Harm-Peer Zimmermann, einem der drei Herausgeber des Sammelbandes »Kulturen des Alterns«. Zimmermann bezeichnet in dem Buch Negt als den »große[n] alte[n] Mann der deutschen Soziologie und engagierte[n] Streiter für Gerechtigkeit und gutes Leben«. Negts Aufsatz, der als Schlusskapitel den Band abschließt, übt Kritik am neoliberalen Gesellschaftsmodell und mündet in das Plädoyer: »Die Aufwertung der Alten und die Aufhebung der Polarisierung zwischen Jung und Alt kann nur gelingen, wenn wir so etwas formulieren wie eine solidarische Ökonomie.« Negt tadelt den akademischen Ausbildungsbetrieb des Bologna-Prozesses als einen, der »darin [besteht], verständnisschwaches Lernen zu privilegieren«. Davor scheint auch die Gerontologie nicht gänzlich verschont zu sein, wie der vorliegende Band erkennen lässt.
Das Buch dokumentiert 29 Beiträge von Gerontologinnen und Gerontologen, die sich 2014 an der Universität Zürich zum ersten Kongress für Kulturwissenschaftliche Alternsforschung versammelt hatten. Im ersten Teil der Veröffentlichung geht es um die Vielgestaltigkeit des Alterns in Kulturen wie der chinesischen, afrikanischen und lateinamerikanischen, in den USA und Frankreich sowie innerhalb des Islam. Aus meiner Sicht von besonderem Interesse sind die erhellenden Aufsätze zur chinesischen Alternskultur von den Sinologinnen Gudula Linck aus Kiel und Franziska Kampf aus Güstrow, über die Rolle der »Vorschriftlichkeit« im Islam (von Otfried Weintritt) sowie zur Behandlung von Kolonialveteranen (von der Politikwissenschaftlerin Barbara Laubenthal) und zur »Mythologie der Altentötung« (des Ethnologen Mark Münzel). Diese Beiträge lassen erkennen, wie aufschlussreich der kulturwissenschaftliche, religionsphilosophische und ethnologische Zugang zur Alternsthematik sein kann. Hier liegen die Vorzüge des Bandes.
Der zweite Teil behandelt »Möglichkeiten und Grenzen des Alter(n)s in der Mitte Europas«. Im Rahmen dieses thematischen Containers werden Fragestellungen abgehandelt, wie sie die bundesdeutsche Gerontologie bisher weitgehend dominieren. Es wird untersucht, wie Medien, Museen, Industrieunternehmen und Pflegedienste auf die Adressatengruppe alter Menschen reagieren beziehungsweise diese verfehlen. Es gibt hier wenig Neues zu berichten. Kulturwissenschaftlich erkenntnisfördernd sind allenfalls die Beiträge über »Alte im Märchen« (vom Kulturwissenschaftler Wolf-Gerrit Otto) und »Altersbilder in der Karikatur« (von der Medizinerin und Geisteswissenschaftlerin Franziska Polanski).
Der dritte und abschließende Teil des Bandes trägt die normativ geprägte Überschrift »Für eine Kultur humanen Alterns«. Die hier versammelten Aufsätze bewegen sich in einem Spektrum zwischen nüchterner Bestandsaufnahme und ideologischer Schönfärberei. Letztere findet ihren exemplarischen Ausdruck in den Überlegungen des Freiburger Rechtswissenschaftlers Thomas Klie. Unter dem Titel »Caring Society – Auf dem Weg in eine sorgende Gemeinschaft?« entwirft der Autor ein Szenario, das sich auf »zahlreiche Hinweise und Empfehlungen etwa von Bertelsmann und Bosch zur neuen Familienpolitik und einer geforderten Rekommunalisierung« beruft. Dabei verdrängt (oder unterschlägt?) Klie, dass Stiftungen wie die von Bertelsmann es waren, die – unter der Devise vom schlanken Staat – die Vorarbeit dafür leisteten, dass sich die Schleusen weit geöffnet haben für die Privatisierung und Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitswesens.
Angesichts von Altersarmut und Pflegeelend fordert Klie nicht die Primärverantwortung sozialstaatlicher Politik, sondern er propagiert – die heute fast aus der Mode gekommene Bürgergesellschaft lässt grüßen – die fromme Legende einer »Verantwortungsgesellschaft«. Wohltuend kritisch liest sich dagegen die sachliche Bestandsaufnahme des Züricher Soziologen François Höpflinger, der beispielsweise feststellt: »Die modernen Konzepte eines aktiven und gesunden Alterns spiegeln … primär die Wirklichkeit wirtschaftlich abgesicherter älterer Menschen in wohlhabenden Ländern wider. In wohlhabenden Ländern … haben sich Leitvorstellungen eines primär körperbezogenen aktiven Alterns durchgesetzt, wogegen die Entwicklungen bezüglich eines geistig-kulturellen oder sozial engagierten Alterns weniger klar sind und primär das Verhalten ausgewählter Gruppen älterer Menschen widerspiegeln.«
Zimmermann, Harm-Peer/Andreas Krus/Thomas Rentsch (Hg.): »Kulturen des Alterns. Plädoyers für ein gutes Leben bis ins hohe Alter«, Campus Verlag, 420 Seiten, 39,95 Euro