»Nichts bleibt, wie es ist. Und wenn du Glück hast, bekommst du gar nicht mit, dass sich alles ändert.« Auch an dem Kellner mit den flaschenbodendicken Brillengläsern, der hier in Santa Gertrudis den Cortado bringt, scheint das Referendum für die Unabhängigkeit der Katalanen auf dem Festland nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Und dann, etwas leiser, diskutiert er mit zwei Kollegen die vor ihnen aufgeschlagene Ausgabe des Lokalblattes Diario de Ibiza, das über Puigdemonts verzweifelten Kampf mit der Madrider Zentralregierung berichtet. »Nichts bleibt so, das sage ich dir«, gibt der alte Kellner noch einmal bekannt, so dass es auch die wenigen Gäste im Café vernehmen können, um dann das Wechselgeld zurückzubringen.
Erst im Auto, als wir im Dunkeln nach San Antoni in unser Hotel zurückfahren, die Scheinwerfer gleiten über die einsam verstreut liegenden Fincas im Innern der Insel Ibiza, fällt uns auf, welchen Hintersinn der so lapidar hingeworfene Satz des Camarero in so bewegten Zeiten auf einer Insel wie dieser in sich birgt. Ibiza bildet gemeinsam mit den anderen Balearischen Inseln eine eigene Autonome Region, ist jedoch kulturell und sprachlich stark mit Katalonien verwoben. Bei San Antoni hatte sich in den Jahren 1932 und 1933 der deutsche Philosoph, Übersetzer und Kulturkritiker Walter Benjamin jeweils für mehrere Monate neben dem Haus eines langjährigen deutschen Freundes einquartiert. Nach einer enervierenden Scheidung so gut wie mittellos, war er auf der Suche nach einer preiswerten europäischen Zuflucht auf die Insel Ibiza gestoßen und hatte – nach zwölf Tagen an Bord des Dampfers Catania aus Hamburg kommend – hier auch tatsächlich günstige Kost und Logis vorgefunden. Er konnte bei seinem zweiten Aufenthalt 1933 nicht wissen, dass er Deutschland nie wiedersehen würde. Sein Bruder Georg, der kommunistische Arzt im Berliner »roten« Wedding, wurde 1933 von den Nazis ins KZ gesperrt, seine Schwester Dora, promovierte Nationalökonomin, als Jüdin arbeitslos gemacht und ins Exil in die Schweiz getrieben. Benjamin musste nicht mehr erleben, wie Georg im Lager Mauthausen 1942 nach Nazi-Diktion an einem »Freitod durch Starkstrom« verstarb und wie Dora 1946 in bitterster Armut an Krebs in der Schweiz zugrunde ging. Als Ältester der drei Geschwister hatte er bereits 1940 auf seiner Flucht von Frankreich nach Spanien seinem Leben in Port Bou ein Ende gesetzt.
Doch die Jahre 1932 und 1933 gehörten, nach Aussagen seiner Freunde und verschiedener Einwohner Ibizas, noch zu den glücklicheren seiner kurzen Lebenszeit: Benjamin schwamm täglich im Meer, ging wandern, kaufte auf dem lokalen Markt ein, besuchte die Gastwirtschaften am nahen Fischerhafen von Punta des Moli, verliebte sich erfolglos in eine Malerin und schrieb und schrieb. Während der Überfahrt hatte er bereits diverse Erzählungen von Mitreisenden, Handelsvertretern oder Schiffsoffizieren gesammelt, literarische Skizzen angefertigt oder aphoristische Sentenzen zu sprachlich brillanter und unkonventioneller Kurzprosa umgearbeitet. Zwei Kerngedanken hing er bei seinen auf Ibiza verfassten Schriften und bei Gesprächen mit Freunden besonders nach: Welchen Stellenwert besaß das Erzählen, die mündliche Überlieferung und ihre Niederschrift noch für die moderne europäische Gesellschaft? »Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt«, hatte er bekannt, und war doch umso erfreuter, hier auf Ibiza den Geschichten der arbeitenden Menschen bei deren Zusammenkünften zu lauschen und sie sich übersetzen zu lassen. Der zweite Fixpunkt seiner Betrachtungen erstand ihm bei der Begegnung mit der Insel und ihrer Alltagskultur jeden Tag aufs Neue: Wie können in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche die lokalen, regionalen oder gar nationalen Traditionen bewahrt werden, ohne dass kulturelle Identitäten durch äußere Einflussnahme umgedeutet, folklorisiert, im schlimmsten Falle pervertiert oder zerstört werden? Nun, angesichts der gegenwärtigen katalonischen Unabhängigkeitsbestrebungen, denen neben wirtschaftlichen Erwägungen auch tiefgreifende, historisch gewachsene und durchaus nicht unbegründete kulturelle Ängste zugrunde liegen, hatte sich Benjamin hier also Themenstellungen zugewandt, die in ihrer Brisanz heute genauso aktuell wirken wie zu seinen Lebzeiten. Als nach dem Ersten Weltkrieg die staatliche und territoriale Neuordnung Mittel-, Ost- und Südeuropas jahrhundertealte Kulturen ihrer traditionellen Verwurzelungen entriss, hatte er – darin Stefan Zweig nicht unähnlich – die Verluste nationaler Identitäten und das Aufkommen faschistischer Strömungen in ganz Europa mit äußerster Sorge betrachtet und sich – nicht ohne den Grundtenor einer melancholischen Nostalgie – an sein Leben im bürgerlichen Vorkriegszeitalter erinnert. Seine »Berliner Kindheit um 1900«, die Wohlbehütetheit in der elterlichen Villa im Berliner Grunewald im Gedächtnis, hatte ihn sein Aufenthalt hier auf Ibiza für die materiellen Lebensbedingungen von Menschen sensibilisiert, wie er sie in Deutschland in einer derartigen Intensität nicht erfahren hatte. In seiner »Ibizenkischen Folge« reflektiert Benjamin angesichts der Kargheit und Armut der Hütten in der für ihn so typischen Komprimierung kultureller Gegenüberstellungen: »Im Hause, wo kein Bett ist, ist der Teppich, mit welchem der Bewohner nachts sich zudeckt, im Wagen, wo kein Polster ist, das Kissen kostbar, das man auf seinen harten Boden legt. In unseren wohlbestellten Häusern aber ist kein Raum für das Kostbare, weil kein Spielraum für seine Dienste.« So wird in seinen Augen die Entwertung der Alltagskultur im Laufe der modernen Entwicklung in dem Maße vorangetrieben, wie sich vermeintlicher Wohlstand und Entfremdung vom unmittelbaren, auch häuslichen, Arbeitsprozess erst im Privaten und später im gesellschaftlichen Kontext durchsetzt. In gewisser Weise wurde Benjamin damit auch zum philosophischen Vordenker der europäischen Hippies, die in den 60er Jahren nach Ibiza kamen, weil diese genau jener Entfremdung zu entfliehen hofften und deren Lebensweise sich – selbst schon zu kultureller Erinnerung geworden – in den Kitsch des heutigen Tourismustrubels einfügt. Am in den 70er Jahren einsetzenden Massentourismus auf der Insel, an der regelrechten Umpflügung seines Aufenthaltsortes Punta des Moli, wo außer einer denkmalgeschützten Windmühle nichts mehr an die hier einst vorhandene Infrastruktur von Fischerei und Landwirtschaft erinnert und sich Hotelbettenkomplexe aneinanderreihen, hätte Benjamin sich unendlich abarbeiten können, wären ihm doch nur vierzig weitere Jahre vergönnt gewesen. Mit seinen auf Ibiza verfassten kulturkritischen Einlassungen eng verbunden sind auch seine persönlichen Erfahrungen als mittelloser Akademiker und seine undogmatische Annäherung an kommunistische Gesellschaftsvisionen, die er in den 20er Jahren in der Sowjetunion erfahren hatte. Tatsache ist, dass alle seine Nachfolger im Reigen der geisteswissenschaftlichen Strömungen der letzten vier Jahrzehnte, all die Strukturalisten, Dekonstruktivisten, die Diskurstheoretiker, die Vertreter der »kulturellen Mobilität«, ihre Einsichten, Ideen und spezifischen Wirkungsfelder den Vorarbeiten Benjamins zur Bewahrung kultureller Vielfalt, zur interkulturellen Empathie und zum zivilgesellschaftlichen Miteinander zu verdanken haben. Vom deutschen Faschismus erst aus seinem Land und seiner Kultur verjagt und später in der Fremde in den Tod getrieben, stehen Walter Benjamin und seine Geschwister exemplarisch für die deutschen Repräsentanten von Kultur und Humanität, die zu Tausenden ins Exil gezwungen, in den Konzentrationslagern und Haftanstalten eingekerkert oder ermordet, in die Vernichtungslager deportiert wurden oder sich ihrem Schicksal durch Freitod entzogen. Vor diesem Hintergrund bekommt die nächtliche Schönheit der kleinen Felseninsel direkt gegenüber Benjamins ehemaligem Wohnhaus auch aktuell noch eine tragische Note, bedenkt man, dass er sich über das Feuer des Leuchtturms von Conillera ebenso erfreut haben muss wie heute die nachgeborenen Besucher dieser Insel.