Anfang 2007 stellten Pankower Bürger, ehemalige Schüler und Mitarbeiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers und Historikers Jürgen Kuczynski an das Berliner Bezirksamt Pankow den Antrag auf Ehrung des Gelehrten, der sein halbes Leben im Ortsteil Weißensee ansässig gewesen war und weit über die Grenzen der Stadt und des Landes hinaus Ansehen erworben hatte. Gewünschtes Datum war der zehnte Todestag. Der Brief vom 28. Februar 2007, gerichtet an den Bezirksstadtrat für Öffentliche Ordnung, wurde auch dem für Kultur zuständigen Bezirksstadtrat sowie der Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Bildung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) zugeschickt.
Eigentlich war es der Wunsch der Antragsteller, die Wohnstraße Kuczynskis – eine der vier Parkstraßen im Bezirk – nach ihm zu benennen. Aber den Gedanken ließen sie fallen, nachdem ihnen klargemacht worden war, welche Probleme mit Behörden, Betrieben und Einwohnern zu befürchten seien. Statt dessen empfahlen sie einen Teil des Parks am Kreuzpfuhl, nicht weit vom Wohnhaus Parkstraße 94. Zugleich schlugen sie folgenden Text für eine erläuternde Tafel vor: »Prof. Dr. Jürgen Kuczynski, Sozialwissenschaftler und Weißenseer Bürger, geb. 17. 9. 1904, gest. 6. 8. 1997. Jürgen K. war in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit vor allem mit der Lage der Arbeitnehmer befaßt. Er war Autor von über 4.000 Publikationen, die in 18 Sprachen weltweit in Ost und West erschienen sind. 1944/45 hat er als Offizier der US-Army am Krieg gegen den Faschismus teilgenommen.«
Natürlich gäbe es vieles hinzuzufügen, was auf einer solchen Tafel keinen Platz fände. Jürgen Kuczynski stammte aus einer traditionsreichen jüdischen Familie, Mitglieder mehrerer Generationen taten sich auf unterschiedlichen Gebieten hervor. Sein Vater Robert René K. (1876–1947) erlangte als Demograf einen weitreichenden Ruf; er gilt als einer der Begründer der Bevölkerungsstatistik. Jürgen Kuczynski promovierte mit 21 Jahren, veröffentlichte ein Jahr später sein erstes Buch. In den Folgejahren war er in den USA tätig, reiste in die Sowjetunion und übernahm 1933 illegale Aufgaben für die KPD, der er seit 1930 angehörte. Nach dem ihm wegen seiner jüdischen Herkunft auferlegten Berufsverbot als Schriftsteller emigrierte er 1936 nach Großbritannien, betätigte sich dort als aktiver Antifaschist, was allerdings die dortigen Behörden nicht daran hinderte, ihn bald nach Kriegsbeginn für mehrere Monate zu internieren, weil er Deutscher war. Später gehörte er als Fachoffizier für Statistik im Range eines Colonel der US-Army an und kam mit dieser nach Deutschland zurück. Nach dem Ende des Krieges ließ er sich in Ost-Berlin nieder und beteiligte sich am Neuaufbau der wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsarbeit der heutigen Humboldt-Universität. Im gesellschaftlichen Leben der Sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, übernahm Kuczynski unter anderem die Funktion des Präsidenten der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion (später Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft).
Der Pankower Kulturausschuß ließ sich ausreichend Zeit zur Behandlung dieses Antrages, so daß der von den Einreichern angestrebte Termin schon bald unhaltbar wurde. Was den Zeitablauf bestimmt haben mag, bleibt offen. Jedenfalls wurde um die Jahreswende 2007/2008 der Fachbereich »Bezirkliche Geschichtsarbeit« (Bezirksmuseum) mit einer Stellungnahme zu dem Thema beauftragt, die schließlich am 28. Mai 2008 fertig vorlag. Bis zu der entscheidenden Beratung des Ausschusses am 19. November vergingen dann weitere Monate, in denen die Bezirksverordneten das Thema intensiv durchdenken konnten.
Diesmal ging es im Meinungsaustausch über einen weltweit anerkannten Wissenschaftler nicht etwa darum, ob dieser nun ausreichend Meriten erworben hatte, sondern mehr um die Frage, ob man mit der Ehrung dieses DDR-Bürgers der jetzigen Hauptströmung (auch mainstream genannt) in der Bundesrepublik Deutschland gerecht würde. Mehrere Redner bekräftigten, daß Kuczynski sehr wohl anerkennenswerte wissenschaftliche Leistungen vollbracht habe, daß er selbst jedoch nach der »Wende« Fehler in seinen Meinungen und Entscheidungen eingestanden habe und diese einer Würdigung im Wege stehen müßten. Spürbar war, daß Kuczynskis Nähe zu führenden Politikern der DDR für mehrere Ausschußmitglieder das eigentliche Hindernis darstellte. Da half es nicht, daß die nicht gerade seltene Aufmüpfigkeit des J. K. ihren besonderen Beitrag zur Entwicklung lebendigen Denkens in der DDR geleistet hat. Andererseits war es wohl einem der Verordneten etwas heikel, ausgerechnet diesem Namen und dazu noch einem mit jüdischen Wurzeln generell Ehre zu versagen; er regte an, den Platz einfach mit dem Familiennamen zu versehen und so auch den Vater (vielleicht aber auch die bereits in einem anderen Berliner Bezirk als Namenspatronin für einen abgelegenen Weg für unwürdig befundene Schwester Ruth Werner?) zu bedenken. Das regte andere Ausschußmitglieder an, weitere Namen zu nennen, ungeachtet der Tatsache, daß deren Träger zum Beispiel mit Weißensee oder gar der Parkstraße nicht das geringste zu tun gehabt hatten.
Seitenhiebe gegen Angehörige anderer Fraktionen blieben nicht aus.
Es kam zu folgendem etwas merkwürdigen Beschluß: Benennung eines Platzes ja, jedoch nicht am Kreuzpfuhl, da diese Gegend vor rund hundert Jahren für Weißensee auf seinem angestrebten Wege zur Stadt als deren geistiges und materielles Zentrum vorgesehen gewesen war. Hier eine Ehrung des nach eigener Darstellung »linientreuen Dissidenten« vorzunehmen, schien einem Sakrileg nahezukommen. Daher fand die Aussprache ihren Abschluß in einer von Linkspartei und SPD getragenen Mehrheitsentscheidung, die der Bezirksverordnetenversammlung vorschlägt, die Benennung eines Stadtplatzes nach Jürgen K. vorzunehmen, aber den Ort dafür einer Suche durch das Bezirksamt zu überlassen.
Der Antrag kann nun in sein drittes Jahr treten. Ossietzky, den öffentlichen Umgang mit dem häufigen Weltbühne-Autor Jürgen Kuczynski aufmerksam beobachtend, wird über den Fortgang berichten. Jürgen Kuczynski hat Probleme bei derlei Ehrungen erwartet und listig damit abgerechnet – nachzulesen in dem Buch »Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende?«, in dem er sich vorstellt, wie es ihm – im Traum – erging, als er – natürlich auch im Traum nur – den Nobelpreis erhalten hatte. Da schrieb er: »Ich hatte den Nobelpreis bekommen. Das wurde am Abend bekannt. Gleich morgens kam jemand mit einem Glückwunsch von Erich. Ich dankte höflich, wie es sich gehört, aber bat ihn, Erich zu sagen, er möchte den Glückwunsch nicht wie üblich im ND veröffentlichen lassen; ich würde ihm gleich schreiben, warum. ›Sehr geehrter Genosse Generalsekretär Erich Honecker: Ich danke Ihnen vielmals für Ihre freundlichen Glückwünsche. Aber ich muß mir noch überlegen, ob ich den Preis annehmen soll. Die Folge einer Annahme wäre nämlich das übliche Hochloben des Genossen J. K. einerseits und Selbstzufriedenheit der Parteiführung mit ihrer Wissenschaftspolitik andererseits. Zur Selbstzufriedenheit aber liegt nicht der mindeste Grund vor …‹ Nachdem ich aufgewacht war, lag ich noch gegen alle sonstige Gewohnheit eine Viertelstunde voll nachdenklicher Freude im Bett. Aber dann sagte ich mir, wie es stets mein Vater bei solchen Träumen tat: So gut ist der liebe Gott nun wieder nicht.«