»Hic te laetitia invitat post balnea sanum« (»Freude empfängt dich hier, entsteigst du gesundet dem Bade«). Der schöne Spruch schmückt den Giebel des Kurhauses des Kempinski Grand Hotel in Heiligendamm, Deutschlands erstem, 1793 vom mecklenburgischen Herzog Friedrich Franz I. eingeweihten Seebad. Im November allerdings ist die Ostsee zu kühl, als daß man das Bad genießen und wie einst die Königin Luise von Preußen, Lord Nelson, die russische Zarenfamilie und andere Angehörige des europäischen Hochadels, aber auch wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, Theodor Fontane, Rainer Maria Rilke und Hans Fallada in der Hoffnung, gesundet zu sein, aus den Meereswogen ans feste Land zurückkehren könnte. Aber auch ohne Bad im Meer kann ein Aufenthalt in der Heiligendammer Kurklinik sowohl angenehm und heilsam als auch aufschlußreich sein. Angenehm, weil die Klinik passabel, Ärzte, Schwestern, Physiotherapeuten freundlich und erfahren sind; heilsam, weil das Haus über alle erforderlichen medizinischen Einrichtungen verfügt und das Klima das Seine zur Rehabilitation der Kurpatienten beiträgt; aufschlußreich, weil Klinik und Umgebung altbekannte Erkenntnisse bestätigen und kleine neue Steinchen in das bunte Mosaik der in der Bundesrepublik herrschenden Gesellschaftsverhältnisse einfügen.
Da ist zunächst die Bestätigung dafür, daß die rund 1.300 Rehabilitationskliniken in Deutschland Teil des kommerzialisierten Gesundheitswesens sind. Im Eingangsbereich des Reha-Unternehmens wird das im eingerahmten »Leitbild« der Klinik fett gedruckt und nur leicht verklausuliert kundgetan: »Eine Säule des langfristigen Erfolgs ist die effiziente und kostenbewußte Erbringung einer anspruchsvollen Rehabilitationsleistung.« Der Kassenpatient spürt das »kostenbewußte« Vorgehen nicht nur an den zehn Euro Zuzahlung pro Tag für die Krankenkasse, sondern auch an den volkstümlichen Preisen für kleine Zusatzleistungen: Inbetriebnahme des Fernsehgerätes im Zimmer: 1,50 Euro pro Tag – dafür kann der Patient zwar SAT 1, RTL, PRO 7, VOX, RTL 2, Kabel, aber weder 3Sat noch ARTE oder Phoenix sehen – Internetnutzung am einzigen PC für 2 Euro pro Stunde, Telefongebühren vor 18 Uhr: 0,15 Euro für 30 Sekunden. Selbstverständlich kann auch eine selbstzahlende Begleitperson die Zusatzleistungen in Anspruch nehmen, vorausgesetzt, sie hat für die drei Wochen die 966 Euro für eine sogenannte Aufbettung im recht kleinen Zimmer mit verbrieften Recht auf ganztägige Verköstigung entrichtet. Sollte sie allerdings wegen eigener akuter Beschwerden eine Überweisung ihres Hausarztes vorlegen, dann wird ihr beschieden, daß nur Gäste des Kempinski Hotels diese ärztliche Hilfe beanspruchen können, da diese schließlich Privatpatienten seien. Dafür ist die ordinäre Begleitperson u.a. berechtigt, an der therapeutischen Maßnahme teilzunehmen, die im Tagesplan für jeden ordentlichen Rehabilitanten so ausgewiesen wird: »Leistung: Bewegung in der Uferzone, Therapeut: Klimatherapie, Ort: Ostseestrand.«
Doch hier ist ein kleines Häkchen, eigentlich ein ziemlich weiter Haken, den jeder Reha-Patient, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schlagen muß, um die Klimatherapie-Uferzone zu erreichen. Einst lag die Klinik, in der DDR das »Sanatorium der Werktätigen«, direkt am Strand, und die Patienten brauchten nur aus den Kurhäusern herauszutreten, um die wohltuende Wirkung der frischen Brise am Strand zu genießen. Doch mit dem Wiedereinzug des Kapitalismus auch an Mecklenburgs Küste veränderte sich die Lage. Der Median-Konzern ließ unweit vom Strand, direkt hinter der berühmten Heilstätte, eine Reha-Klinik bauen, die 1997 eröffnet wurde. Nahezu zeitgleich erwarb die in Düren bei Köln ansässige Fundus Gruppe des Unternehmers Anno August Jagdfeld die Gebäude des nun ehemaligen »Sanatoriums der Werktätigen«, einschließlich des großen, sich längs der Meeresküste hinziehenden Grundstückes, und verwandelte sie in das luxoriöse Kempinski Grand Hotel. Nach Gebäude- und Landnahme umzäunten die neuen Besitzer das Areal und schufen damit einen Sperr-Riegel, der den Patienten der Reha-Klinik den direkten Zugang zum heilenden Strand unmöglich macht. Allerdings können die zumeist an Herz- und Kreislauf- sowie Atembeschwerden leidenden Kranken nun nach einem etwa 700 Meter langen Spaziergang in Richtung Westen doch noch ans rettende Ostseeufer gelangen und bei guter Kondition am selbigen ostwärts zurücklaufen, um von einer Seebrücke aus die »Weiße Stadt am Meer«, den eingezäunten prachtvollen Kempinski-Grand-Hotel-Komplex, zu bewundern. Auch wenn nicht alle dazugehörigen Strandvillen renoviert sind, sondern allmählich verfallen, ist die Anlage schön anzusehen, so prächtig, daß den zeitgeschichtlich informierten Betrachter ein Hochgefühl besonderer Art befallen kann. Steht er doch, nur von einem stählernen Zaun getrennt, vor dem Ort, an dem 2007 die höchsten und höchstgeschützten Repräsentanten der G-8-Staaten zusammengekommen waren, gemeinsam im extra großen Strandkorb für Kameraleute und Fotografen aus aller Welt poussierten und welthistorische Beschlüsse faßten, die sie selbst inzwischen wieder vergessen haben. Daß hier einst auch Hitler und Mussolini konferierten und tafelten, wissen nur die wenigsten der Zaungäste.
Dem an Gästemangel leidenden Kempinski Hotel brachte der G-8-Gipfel nur einen kurzzeitigen Gewinn, aber die Idee für eine langfristige Werbeaktion. Auf seitengroßen Annoncen wird der Appell verbreitet: »Kommen Sie auf den Gipfel der Genüsse!« Damit auch jeder den Aufruf versteht, wird erläutert: »Wo sich Staatschefs aus aller Welt in Heiligendamm zum Gipfel treffen, treffen sie auf das Beste: Auf den Gipfel der Genüsse, eine Traumlage am Ostseestrand und ein Hotel von atemberaubender Schönheit ... Das Kempinski Grand Hotel Heiligendamm wird für jeden Besucher zu einem persönlichen Gipfeltreffen. Wann kommen Sie in den Genuß?«
Die am Zaun stehenden Reha-Patienten dürften in der Regel auf diesen Genuß verzichten und sich auf den für sie recht langen Heimweg in die vom Meer abgetrennte Seeklinik machen. Dabei verpassen sie tatsächlich einiges, nicht nur die Lage am Strand, sondern zum Beispiel eine Übernachtung bei Kempinski in einer Strandsuite zum günstigen Nebensaisontarif von 765 Euro pro Nacht zuzüglich ein mögliches »Bademenü ›Großherzog Friedrich-Franz‹« bestehend aus: »Entspannen mit Kräuterdämpfen, Meersalz-Peeling, Meersalzbad mit Algen, Ganzkörper-Algenpackung inkl. Feuchtigkeitsserum für das Gesicht, Aromamassage für den Rücken, abschließende Pflege mit Meeresprodukten, Kräuter-Algentee und Algen-Snack« für läppische 195 Euro. Angesichts solcher Preise sind die Zuzahlungen und Gebühren in der Reha-Klinik doch wirklich moderat. Und das immerhin ist tröstlich.