Der »Verfassungsschutz« genannte Geheimdienst, der bei Bürgerrechtlern dafür bekannt ist, daß er immerzu mit der Verfassung kollidiert, teilte Ende 2006 dem Sozialpädagogen Wolf Wetzel in Frankfurt am Main mit, daß er dessen Telefon- und Briefverkehr im Jahre 1998 sechs Monate lang überwacht hatte. Begründung: Verdacht auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, die in den Jahren 1988 bis 1996 Brandanschläge und Sabotageakte begangen habe. W. legte Widerspruch ein, um die Unrechtmäßigkeit des Eingriffs in seine Grundrechte nach Artikel 10 des Grundgesetzes (Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses) klären zu lassen. Da das Bundesamt keine konkreten Verdachtsmomente genannt hatte, argwöhnte W., der angebliche Verdacht sei ein Phantasiekonstrukt gewesen: Der Geheimdienst habe sich die terroristische Vereinigung ausgedacht, um die Genehmigung für Überwachungsmaßnahmen zu bekommen, mit denen sich dann vielleicht Verdachtsmomente finden ließen, die nach geltendem Recht Voraussetzung für den Einsatz solcher geheimdienstlicher Mittel sind.
Damit der »G-10-Ausschuß« des Bundestags solche Observationsmaßnahmen genehmigt, muß der Bundesminister des Innern (BMI) als oberster Dienstherr des Bundesamtes für Verfassungsschutz »tatsächliche Anhaltspunkte« anführen. Im Falle W. genügte den Abgeordneten ein einziger »tatsächlicher Anhaltspunkt«, nämlich der Bericht eines V-Mannes des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz über ein Gespräch, das W. mit mehreren Personen geführt und in dem er unter anderem über seine schwere Kindheit sowie über geplante Anschläge gesprochen habe; etliche Passagen des Berichts waren durch Schwärzung unkenntlich gemacht.
Der Ausschuß genehmigte die Überwachung für drei Monate und dann, nachdem sie nichts Brauchbares ergeben hatte (vorgelegt wurde ihm ein an vielen Stellen geschwärztes und schon deswegen für die Wahrheitsfindung untaugliches Protokoll eines Telefonats), für ein weiteres Vierteljahr – wobei die Antragsteller ernsthaft argumentierten, der Mangel an »tatsächlichen Anhaltspunkten« beweise, daß sich die ausgespähte Person besonders konspirativ verhalte. Ein großartiger Beweis, jederzeit gegen jedermann anwendbar.
Daß der Lausch- und Spähangriff nach einem halben Jahr endete, daß wenig später das ihm zugrundeliegende Ermittlungsverfahren eingestellt wurde und daß das alles schon etliche Jahre zurücklag, beruhigte W. nicht. Sein Einspruch führte inzwischen zu einem Prozeß vor dem Verwaltungsgericht Berlin, von dem er sich die Klarstellung erhoffte, daß der vom hessischen Landesamt für Verfassungsschutz mit der bemerkenswerten Nummer 123 bezeichnete V-Mann erfunden war und das angeblich belauschte Gespräch niemals stattgefunden hat – die Klarstellung also, daß der Geheimdienst den Bundestagsausschuß getäuscht hat.
Das Gericht entschied am 8. Juli 2009: Die Behörde habe nicht hinreichend nachgewiesen, daß die Observation von Telefon und Post in diesem Fall notwendig gewesen sei. Die angegebene Begründung entziehe sich »einer rationalen Überprüfbarkeit«. Falls auf W. ein V-Mann angesetzt gewesen sei, hätte die Behörde nicht ohne besonderen Grund auch noch zum äußersten Mittel, dem Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 10, greifen dürfen. Ergebnis: »Die vom BMI dem Kläger gegenüber angeordneten Überwachungsmaßnahmen waren rechtswidrig.« Für rechtswidrig erklärten die Berliner Richter besonders die Praxis des Verfassungsschutzamtes, einen massiven Eingriff in Grundrechte einfach mit solchen »formelhaften« Satzbausteinen zu begründen wie der bloßen Behauptung, eine Aufklärung des Sachverhalts sei »allein mit anderen nachrichtendienstlichen Mitteln nicht möglich«. Angebliche »tatsächliche Anhaltspunkte« müßten überprüfbar sein, forderten die Richter und wiesen das Argument zurück, diese Forderung gefährde den Schutz des V-Mannes, den Verfassungsschutz und letztlich die Bundesrepublik Deutschland. Ob es den V-Mann wirklich gibt, blieb offen; nicht einmal der Prozeßvertreter des Ministeriums zeigte sich davon überzeugt.
Das Bundesinnenministerium reagierte entsetzt auf das Urteil: Man könne vom Geheimdienst doch nicht »die Offenbarung der eigenen operativen Schwäche« verlangen. So weit dürfe die Forderung nach substanziierter und nachprüfbarer Begründung jeder Anordnung nicht gehen, meint das BMI, das inzwischen in die Berufung gegangen ist. Für die Zuverlässigkeit von Informationsquellen – hier also des V-Mannes 123 – übernehme der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz »persönlich die Verantwortung«, heißt es im Berufungsschreiben. Abgeordnete und Richter sollen also brav auf die Persönlichkeit des jeweiligen Chefs der Schlapphüte vertrauen – eine grausige Vorstellung, wenn man sich die Reihe der bisherigen Präsidenten, angefangen mit Otto John und dem ehemaligen NS-Staatsanwalt Herbert Schrübbers, in Erinnerung ruft.
Als Freidemokraten, Grüne und Linke in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß die Rolle des Bundesnachrichtendienstes im Irak-Krieg aufklären wollten und die Bundesregierung sie dadurch behinderte, daß sie angeforderte Akten sperrte, Aussagegenehmigungen für geladene Zeugen einschränkte und für sich einen »Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung« beanspruchte (W.: »Umschreibung für eine rechtsfreie Zone«), klagten die damaligen Oppositionsparteien beim Bundesverfassungsgericht und bekamen weitgehend Recht. Das gibt ihm Zuversicht, auch im Berufungsverfahren Erfolg zu haben –was im Interesse unserer Grundrechte und der Rechtssicherheit dringend zu hoffen ist. Jedenfalls soll der »G 10«-Ausschuß des Bundestags bitte künftig Observationsanträge ablehnen, die dermaßen unsubstanziiert und unüberprüfbar sind.