Mit schöner Regelmäßigkeit erhielt ich alle Jahre wieder für den Herbst eine Einladung zu den »Berliner Festtagen der Musik und des Theaters«, dem internationalen Vorzeigefestival der DDR. Das Programm der »Tage« erstreckte sich über sechs oder acht Wochen – im Unterschied zur Konkurrenzgründung der (West)-»Berliner Festwochen«, die ihre Veranstaltungen in gerade mal ein paar Tagen abwickelte. Ein einziges Mal war ich auch bei den kurzen »Wochen« erwünscht, nach meinen Ostberliner Auftritten jedoch nie mehr.
Die Vorstellungen zu den Festtagen fanden meist in der »Distel« statt. Eines Abends zog mich deren Dramaturg Heinz Lyschik ans Fenster: »Guck mal, die ganze Menschenschlange bis zum Bahnhof Friedrichstraße ... Wir sind längst ausverkauft, aber das sind alles Leute, die hoffen, doch noch eine Karte für Dich zu kriegen.« So etwas tut natürlich gut. Sicherheitshalber will ich dazu aber doch relativierend anmerken, daß dieser Umstand nicht unbedingt nur für einen persönlichen Kult-Status sprechen mußte; viele wollten vorrangig wohl eben eher nur »den Kabarettisten aus dem Westen« bestaunen. Denn damals, lange Jahre vor den später in den BRD-Medien hoch abgefeierten kurzen DDR-Auftritten Dieter Hildebrandts und Werner Schneyders, war ich noch eine exotische Ausnahmeerscheinung.
Später, anläßlich der Verleihung des Deutschen Kleinkunstpreises 1984 in Mainz, hat mich ein Rundfunkreporter im Interview ein wenig hämisch gefragt: »Würden Sie nicht auch wie der Kollege Hildebrandt gern mal da drüben auftreten?« Da drüben, das war die DDR.
»Klar, warum nicht ein zweihundertstes Mal ...?«
Da fiel dem Braven die Kinnlade runter: »Ach Sie spielen tatsächlich in der DDR?«
»Natürlich. Wie Sie eben richtig bemerkt haben, tun das inzwischen andere Kollegen gelegentlich doch auch.«
»Bei Ihnen ist das aber was anderes.«
Irgendwie hatte er ja Recht. Wahrscheinlich wurde deshalb vor der Sendung im Saarländischen Rundfunk die fragliche Passage herausgeschnitten.
Soweit war es jedoch Ende der Siebziger bei den Berliner Festtagen noch nicht. Irgendwann fiel mir dann aber auf, daß die Auftritte in der »Distel« fast regelmäßig auf den 5., 6. und 7. Oktober gelegt waren. Der 7. Oktober war der Nationalfeiertag der DDR. Verblüffend fand ich, daß man sich zu solchem Anlaß einen Westler in die Hauptstadt holte. Beim bundesdeutschen Verfassungsschutz wird man sich über das Gesetz solcher Serie vermutlich Gedanken gemacht haben. Mir selber ist erst später aufgegangen, daß die Hintergründe der ehrenvollen Terminierung wohl eher profaner Natur waren. Die Kollegen der DDR-Kabaretts waren ja fest angestellt und verdienten nicht schlecht. Daneben aber machten die meisten privat noch gutes Geld mit Soloauftritten bei Betriebsfeiern und ähnlichen Festivitäten. Außer dem Internationalen Frauentag waren die gefragtesten Termine für derlei »Mucken« der 7. Oktober und seine Vorabende. Spielte nun ein lieber Gast im Hause, hatte das Ensemble frei und somit genügend Zeit, anderswo aufzutreten. Meine Oktober-Auftritte in Ostberlin weisen deshalb vermutlich auch eine soziale Komponente auf: die der solidarischen Kollegenfürsorge. Dem Staatsschutz West wird dieser einfache Zusammenhang wohl kaum aufgegangen sein, und so hat mir mein Ostberliner Sozialdienst mit Sicherheit ein paar Minuspunkte mehr in Köln (Bundesamt für Verfassungsschutz) und Pullach (Bundesnachrichtendienst) eingebracht.
Bei einem dieser »Festtage«-Gastspiele erlaubte ich mir einen Scherz, der sich langfristig gravierender auswirkte, als ich erwartet hatte. Zu jener Zeit war Klaus Bölling »Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR« – so die euphemistische Umschreibung eines Postens, der de facto dem eines Botschafters entsprach, dies nach Bonner Tabu aber keinesfalls sein durfte. Wir beide waren alte Bekannte. Schließlich hatte er seinen jetzigen Job mir zu verdanken. Die CDU hatte 1973 den Wechsel des SPD-Mannes vom Intendantenstuhl von Radio Bremen auf den bedeutenderen des NDR-Chefs verhindert und dazu meine vorhergehenden ARD-Sendungen aus Bremen als Spielball benutzt: »Wer als verantwortlicher Senderchef von Radio Bremen so etwas wie Kittner hat durchgehen lassen, darf unserer Meinung nach keinesfalls den Posten des Hamburger Intendanten bekleiden.« So wurde Klaus Bölling nicht NDR-Chef, sondern zunächst Regierungssprecher, danach Botschafter in der DDR. Eigentlich ja eher ein Karrieresprung nach oben. Ihn rief ich nun auf seiner Ostberliner Dienststelle in der Chausseestraße an.
»Lieber Herr Bölling, ich melde mich, weil ich Schaden von unserem Staat abwenden will. Sehen Sie mal, Sie kennen doch die internationalen Berliner Festtage, eine Staats- und Hauptaktion. Wenn dort ein japanisches Ensemble auftritt, erscheint der japanische Botschafter mit Blumen; singen Italiener, ist immer ein Vertreter der Botschaft ihres Landes dabei; sind es Schweizer Künstler, kommt wenigstens der Generalkonsul. Jetzt spiele ich nun schon zum ich-weiß-nicht-wievielten Male als Vertreter der BRD hier – außer mir sind es nur noch die Bamberger Symphoniker –, und aus Ihrem Hause ist nie jemand zu einer meiner Vorstellungen erschienen, außer vielleicht incognito zum inoffiziellen Mitschreiben ... Mir persönlich ist das ja egal, aber ich sage Ihnen, ich sage Ihnen, es wirft ein schlechtes Licht auf unser Land. Die DDR-Kollegen machen schon hämische Witze ...«
»Lieber Dietrich Kittner, wenn es das ist: »Ich lade Sie gern mal zum Mittagessen ein.«
»Nein«, sagte ich dem diplomatischen Vertreter, »darum geht es nicht. Mein Mittagessen kann ich selbst bezahlen. Ich rufe nur aus Sorge um das Ansehen der BRD an. Die Sache macht kulturpolitisch einen schlechten Eindruck. Glauben Sie mir.« Damit war das Gespräch beendet.
Wenig später, im Mai 1983, machte die DDR-Schallplattenfirma Litera im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm einen öffentlichen Mitschnitt meines Programms »Dem Volk aufs Maul«. Es sollte meine zweite Schallplatte für die DDR werden. Die Vorstellung lief hervorragend. Schließlich fühlte ich mich an historischer Stätte auch besonders angefeuert. Es war nun schon das dritte Mal, daß ich die Ehre genoß, auf Brechts Bühne auftreten zu dürfen.
Es gab ein Programm-Potpourri mit den aktuellsten Nummern. Dazu gehörte neben einer Shakespeares Marc-Anton-Rede nachempfundenen Laudatio auf Kanzler Kohl (»Denn Helmut ist ein ehrenwerter Mann«) auch mein »Terroristenlied«. Es enthält eine Passage, in der ich scherzhaft-ironisch irgendwen aus dem Publikum unvermutet als Terroristen entlarve. Die unfreiwillige Rolle des Mitspielers im Saal besetzte ich damals je nach Möglichkeit und Laune gern entweder mit einem guten Freund oder mit jemandem mir Unbekannten im Auditorium, der ob meiner Darbietung sichtbar verbittert schien.
Diesmal traf es einen gepflegten Herrn in der ersten Reihe. Mit verschränkten Armen, unbewegten Gesichts hockte der Typ dort, während die Damen rechts und links neben ihm, offensichtlich Frau und Tochter, fröhlich lachten und applaudierten. Nach der Pause waren die drei verschwunden.
»Weißt Du, wen Du da angemacht hast?« fragte mich Ekke Schall in der Pause: »Das war der ständige Vertreter der BRD.«
Bölling hatte über das erwähnte Telefonat offensichtlich eine Aktennotiz angelegt. Inzwischen war ein Amtswechsel erfolgt. Sein Nachfolger Hans Otto Bräutigam hatte das Papier wohl vorgefunden, beschlossen, diesmal doch etwas für das Ansehen unseres Landes zu tun, und offiziell Karten für die erste Reihe bestellt. Ein diplomatischer Akt. Er mußte natürlich annehmen, ich hätte ihn erkannt. Was hatte ich da angerichtet!
Es sollte noch schlimmer kommen.
Für nach der Vorstellung hatten Christel und ich einen Tisch im benachbarten Restaurant »Ganymed« bestellt, um mit Barbara Brecht-Schall, Ekkehard Schall, Manfred Wekwerth und dem uns schon länger befreundeten Litera-Dramaturgen Jürgen Schmidt die gelungene Aufnahme zu feiern. Als wir das Lokal betraten, stellten wir fest, daß am Nebentisch … – die Familie Bräutigam residierte. In dieser Situation begriff ich eine der Schwierigkeiten des Diplomatenberufs. Es war nicht einfach, einander auf so kurze Distanz intensiv zu übersehen. Sowohl Bräutigam als auch ich verspürten das unabweisbare Bedürfnis, die Decke des Speisesaals eingehend zu inspizieren. Es fehlte eigentlich nur noch, daß wir beide dazu hingebungsvoll harmlos in die Luft gepfiffen hätten.
Schließlich war die Operation gelungen: Bräutigam und ich saßen Rücken an Rücken.
Wenn in der DDR irgendwo ATA draufstand, war verläßlich auch ATA drin. Genauso ging es selbstverständlich im »Ganymed« zu. Über der Tür stand unübersehbar »Weinrestaurant«, und so war es denn auch. Wer die zweifellos gehobene Küche des Hauses in Begleitung eines kühlen Hellen genießen wollte, mußte sich die niederschmetternden Worte sagen lassen: »Mein Herr, wird sind ein Weinrestaurant!« Außer ..., ja außer man gehörte zu den Stammgästen. Dazu zählten selbstverständlich die Schalls und Wekwerth. Auch Christel und ich waren nicht zum ersten Mal da.
Voraussetzung dafür, dann nun eben doch ein schönes Radeberger Pils zu bekommen, war die strikte Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln. Das Wort »Bier« dufte keinesfalls ausgesprochen werden. Man mußte dem Kellner bekannt sein und bei der Bestellung mit nachdrücklicher Betonung »einen Eisbecher« ordern. Dazu hatte man verschwörerisch kurz mit dem linken – oder meinetwegen auch rechten – Auge zu blinkern. Daraufhin kam der ersehnte Gerstensaft in einem silbernen Becher, auf dem appetitlich die »Sahne« stand, gewissermaßen eine Eis-Blume.
So sollte es auch an diesem Abend geschehen. Christel trinkt nur Bier, und bei Ekke war das nicht anders. Also bestellte ich unter anderen auch »zwei – rechts, linkes Auge – »Eisbecher«. Als der Kellner schon mit dem Bestellzettel zu enteilen begann, verspürte ich nach der langen Vorstellung spontan zunächst doch mehr profanen Bierdurst als Vorfreude auf den vorzüglichen bulgarischen Mavrud. (Die Balkanbewohner drücken dies sprichwörtlich genauer aus: »Pivo protiv zeda, vino za veselicu« – Bier gegen den Durst, Wein zum Vergnügen.«) Deshalb rief ich dem Ober nach: »Ach bitte doch lieber drei – Eisbecher.«
Damit hatte ich bei den Damen am Nebentisch, denn selbstverständlich war unseren Tischnachbarn der Wortwechsel nicht entgangen, augenscheinlich Begehrlichkeiten geweckt, und mein diplomatischer Rückenmann setzte noch eins beziehungsweise zwei drauf: »Bitte für uns auch noch zwei Eisbecher!«
Der Kellner machte ohne viel Gewese einen vierten und fünften Strich auf seiner Bestelliste und entschwand.
Nachdem er etwas später mit den Bestellungen auf dem Tablett wieder erschienen war, erhob sich am Bräutigamschen Tisch plötzlich lautes Gezeter. Wir Künstlerpack hörten taktvoll weg und überließen herzlos den Kellner seinem Problem.
Ein paar Tage später schrieb ich dem »Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR. S. E. Herrn Hans Otto Bräutigam, Chausseestraße, 1017 Berlin, Hauptstadt der DDR« einen Brief, in dem ich mich für seinen Besuch im BE bedankte und mein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, daß seine dienstlichen Obliegenheiten es ihm leider nicht erlaubt hätten, dem zweiten Teil des Programms beizuwohnen. Ich würde ihm zur Entschädigung gleich nach Erscheinen der Platte eines der ersten Exemplare zusenden. Eine Antwort habe ich selbstverständlich nicht erhalten.
Auch die Platte ist nie erschienen, und das ging so: Knapp ein Jahr später, im Juli 1983, erhielt ich von Litera die Mitteilung, der Rohschnitt der Platte sei fertig, und bald darauf eine Musik-Kassette davon mit der Bitte um Freigabe. Letzteres kein Problem. Das dramaturgische Genie Jürgen Schmidt hatte es meisterlich verstanden, die 165 Minuten des Abends auf sage und schreibe 58 Minuten zurechtzuschneiden, ohne daß ich hätte sagen können, an der Grundaussage des Programms sei etwas geändert oder gestrichen worden. Die Freigabe durch den Verlag erfolgte kurz vor Weihnachten, im Herbst 1984 sollte ausgeliefert werden.
Alles paletti, hätte man meinen wollen. Bloß: Für Herbst stand der großangelegte Staatsbesuch Erich Honeckers in Bonn auf dem diplomatischen Programm, und so erhielt ich einen ebenso kurzen wie freundlichen Brief vom VEB Deutsche Schallplatten: »Die große Politik wirft ihre Schatten und entscheidet manchmal darüber, wann etwas Gutes und Gelungenes an das Licht der Welt treten darf und wann nicht. Im Herbst, zeigt sich, ist es nicht opportun, daß wir allzu deutlich sagen, wer dem ›Volk aufs Maul‹ schlägt. Das würde nicht ins Reisegepäck passen ...«
Erst Jahre später, nach der Kehre, habe ich gerüchteweise erfahren, Botschafter Bräutigam habe sich beim Außenministerium über den ihm widerfahrenen dreifachen Tort beschwert. Diensteifrig und eilfertig sei der Rüge des großen Bruders entsprochen und die Platte aus dem Programm gestrichen worden ... Helmut Kohl hat der DDR solch Entgegenkommen sicherlich besonders gedankt. Zumindest ein paar Jahre später.
Dietrich Kittners Silvester-Veranstaltung in Hannover muß krankheitshalber ausfallen, ebenso die für Januar angekündigten Veranstaltungen in Hamburg, Uelzen und Leiferde.