Stellen Sie sich mal folgende Situation vor: Früh am Morgen verabschiedet die Mutter ihre Kinder zur Schule, die Ranzen sind ordentlich gepackt, die Nasen frisch geputzt, und auch eine letzte Kontrolle der folgsam vorgestreckten Hände ergibt keinerlei Beanstandungen. Artig sagen die lieben Kleinen »Auf Wiedersehen«, und beruhigt kann sich die Mutter dem Herd und der Arbeit im Haus zuwenden.
Nun gut, werden Sie vielleicht denken, wäre ja schön, wenn es so wäre, wenn sich nicht der morgendliche Aufbruch in Wirklichkeit ganz anders, viel chaotischer abspielen würde. Aber überhaupt, mögen Sie einwenden, was ist das eigentlich für ein Frauenbild, das da vermittelt wird, wo gibt es denn noch Mütter, die ihr ganzes Glück in der Versorgung der Kinder und der Besinnung auf die häuslichen Pflichten sehen?
Warten Sie ab, es geht noch weiter! Stellen Sie sich vor, die Kinder marschieren nun brav Hand in Hand zur Schule und freuen sich an der frühen Morgenstunde, die ja bekanntlich Gold im Munde hat. Pünktlich kommen sie im Klassenzimmer an. Als der Lehrer vor sie tritt, springen sie geschwinde auf, schmettern ein fröhliches »Guten Morgen, Herr Lehrer!« und falten brav die Hände zum Gebet. Darauf beginnt ohne Verzögerung der Unterricht, der Lehrer stellt seine Fragen, die Schüler melden sich beflissen, alle sind zufrieden. Und was der Lehrer sagt, das gilt, jeder merkt es sich und lernt fürs Leben. Mit Feuereifer sind sie alle dabei, denn sie wissen: Wer nichts lernt, aus dem nichts wird, der findet keinen Beruf und keine Arbeit und darf nicht dazugehören.
In der Pause aber kann guten Gewissens gelärmt und getobt werden, dafür sind Pausen schließlich da und sind doch auch die Belohnung fürs lange Stillsitzen und die anstrengende Arbeit mit dem Kopf. Wie toll jagen die Kinder über den Platz, nein, halt, nur die Jungen sind wie toll, die Mädchen wandern lieber sittsam mit der besten Freundin am Arm auf und ab. Und wenn ein Junge es gar zu wild treibt, zeigen sie ihm wohl deutlich, daß Übermut selten gut tut und die wahre Reife im Stillsein und Nicht-Kreischen, Nicht-Rennen, Nicht-Schubsen liegt. Deshalb wissen die Jungen auch, wann es genug ist, und prügeln sich nicht und rufen auch keine bösen Schimpfwörter, sondern hören folgsam auf, wenn es am schönsten ist. Auch ist ja der gute alte Lehrer auf dem Hof und hat ein wachsames Auge auf alles, was passieren mag.
Es reicht, werden Sie jetzt rufen, was soll das? Wir wissen doch alle, wie es auf den Schulhöfen zugeht und daß so mancher Lehrer bei der Pausenaufsicht eher darum bangt, ob er die zwanzig Minuten »Freiheit« überhaupt unbeschadet übersteht! Und gerade auch die Mädchen prügeln sich in letzter Zeit immer häufiger und mit immer größerer Aggressivität, das liest man doch ständig in der Zeitung! Aber selbst, wenn es nicht so wäre, darf man sie doch nicht auf ihre Rolle als sanfte Streitschlichterinnen einschwören und für Ruhe und Ordnung verantwortlich machen.
Doch hören Sie auch noch den Rest der Geschichte, als der Unterricht weitergeht und nun der kleine Max vom Lehrer bestraft werden muß, weil er nichts als Unfug im Köpfchen hatte und die Hausaufgaben nicht gemacht waren. Da gibt es einen Satz heiße Ohren, und dann muß Max in die Ecke, wo er über sein Vergehen nachsinnen kann, bis er geläutert ist, während die Klassenbeste dem Lehrer schon mal die Geige holen darf und die anderen dann gemeinsam schöne Lieder singen, worauf noch ein wenig praktische Arbeit im Schulgarten folgt und schließlich echte körperliche Ertüchtigung im Turnunterricht, mit dem Ziel, sich fit zu machen für den Kampf gegen allerlei Feinde, die einem Schlimmes wollen. Mit einer ernsten Ermahnung des guten alten Lehrers, nicht vom Wege abzukommen und sich nicht zu Dummheiten verführen zu lassen, geht der Schultag dann zu Ende; und dieser Weisung werden sie alle folgen, wohl wissend, daß das Böse hinter jeder Ecke lauern kann. Sittsam geht es also zurück nach Hause, wo der Vater schon zufrieden am gedeckten Tisch sitzt und die Mutter gerade die dampfende Schüssel aus der Küche bringt ... Ende gut, alles gut, das Leben ist schön und die Welt allen Unkenrufen zum Trotz völlig in Ordnung.
Ist sie nicht, wenden Sie jetzt zu Recht ein. Alles Quatsch! Und davon mal ganz abgesehen, will ja wohl auch keiner die Kinder heute wieder ernsthaft auf preußische Tugenden und längst überkommene Rollenbilder einschwören, oder? Klar, schöner wäre es schon, wenn der Unterricht nicht erst nach einer Viertelstunde mehr oder weniger erfolgreicher Disziplinarmaßnahmen beginnen könnte, wenn die Schüler allzeit motiviert wären, wenn es zu Hause für alle ein warmes Mittagsessen gäbe und eine Mutter und einen Vater, die sich kümmern oder wenigstens da sind – aber wer will denn wirklich den Rückschritt zum Frontalunterricht, wer will den allwissenden und allmächtigen Lehrer und die geduckten Kinder, denen das Wohlverhalten zur Not und natürlich nur zu ihrem eigenen Besten mit dem Rohrstock eingebleut wird?
Halt, sage ich jetzt, um uns herum gibt es offensichtlich genug erwachsene Menschen, die nichts dagegen hätten, wenn Schule und Erziehung wieder auf den Stand von 1924 rutschen würden, als in der Weimarer Republik erstmals die »Häschenschule« von Albert Sixtus erschien. Ein »Erziehungsbuch« hatte der Lehrer Sixtus da geschrieben, das mit einfach gereimten Texten und farbenfrohen Bildern für das warb, was keinesfalls hinterfragt werden durfte und aus kleinen anarchistischen Monstern brave Kinder und später dann gute Erwachsene machen sollte.
Seit mehr als 80 Jahren wird die »Häschenschule« nun verkauft, ein echter Bestseller, bereits 1943 war die Auflage bis auf fast 400.000 Exemplare gestiegen, und kurz nach Kriegsende schon war der Klassiker wieder in einer neu gestalteten Ausgabe erhältlich. Nach einer Durststrecke in den Sechziger und Siebziger Jahren liegt die »Häschenschule« heute mit über einer Million verkauften Exemplaren in der Nostalgiewelle ganz vorne, monatlich gehen manchmal bis zu 50.000 Exemplare über den Ladentisch – der Trend scheint ungebrochen.
Klar, in Zeiten allgemeiner Hast und multimedialer Überflutung und Überforderung sehnt sich so mancher nach dem zurück, was auf der Strecke geblieben ist: eine überschaubare Ordnung und nachvollziehbare Strukturen auch und gerade im erzieherischen Umgang mit Kindern. Die »Häschenschule« bietet einen verläßlichen Gegenpol zum Glitzer und Geschrei der jährlich über 5.000 neuen Kinderbuchtitel und steht in ihrer Schlichtheit für das Beständige, steht für »die gute, alte Zeit«, als die Welt noch in Ordnung war. So mag es zumindest manchem scheinen, der in der Zeitung fast täglich über wüste Schulhofschlägereien, Drogenhandel in der Pause, Erpressung, Vergewaltigung und amoklaufende Schüler liest. Und auch die Unterrichtsinhalte waren früher einfacher nachvollziehbar: So wie die Hasen mit Eier-Malen und Kohlgemüse-Ernten gut bedient waren, waren die Menschenkinder ganz offensichtlich mit Schönschrift-Rechnen-Heimatkunde besser fürs Leben gerüstet als mit allem, wofür die Pisa-Ergebnisse nun in schöner Regelmäßigkeit die Mär vom Land der Dichter und Denker Lügen strafen.
So weit mag der Wunsch nach wieder fest gefügten Werten sogar nachvollziehbar sein – würde er nicht gleichzeitig auch die Struktur unbedingter Autorität für gut heißen und erneut all das aufs Tapet bringen, was wir in der Folge von 1968 ein für alle Mal als den Jahrhunderte alten »Muff« der Bildungsanstalten begraben zu haben hofften.
Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer: Es geht schon lange nicht mehr nur um Großmutters Bilderbuch, das auch Elke Heidenreich ihrem willfährigen Publikum begeistert als schöne Erinnerung an die glückliche Kindheit pries, sondern es geht um den Wunsch, preußische Erziehungsideale ungebrochen wieder einzuführen: Einzig Demut gegenüber Eltern, Lehrern und Dienstherren vermag die verloren gegangene Ordnung wiederherzustellen und der pädagogischen Ratlosigkeit Paroli zu bieten. Wer sich also nicht anpaßt, wird kurzerhand aus der Sozialgemeinschaft ausgeschlossen und in die Ecke gestellt.
Das geht Hand in Hand mit der Idee eines Systems von Befehl und Gehorsam, wie es infolge der Bücher »Lob der Disziplin« oder »Von der Pflicht zu führen« des ehemaligen Leiters der badischen Eliteschule Salem plötzlich von den verschiedensten Seiten eingefordert wird – und da waren dann nicht nur für Bernhard Bueb die schlimmste Zeit die Siebziger Jahre, als die Schüler es tatsächlich wagten, Fragen zu Inhalten und Form der pädagogischen Vermittlung zu stellen, und schließlich auch noch Antworten auf ihre Kritik einforderten.
Daß solche Ungeniertheit aber nicht gut tat und tut, meint mittlerweile eine ganze Reihe rechtschaffener Besserwisser, die sich mit dreister Ignoranz berufen fühlen, »1968« und jeden Versuch einer »antiautoritären Erziehung« in Mißkredit zu bringen. Daß dem Lehrer der »Häschenschule« in den heutigen Ausgaben der Rohrstock wegretuschiert wurde, wird da mancher aufrichtig bedauern.
Die Wende ist längst eingeläutet: Das scheinbar fröhliche Miteinander, das die »Häschenschule« auf den ersten Blick für viele wieder so liebenswert erscheinen läßt, gibt es bestenfalls noch in den ersten beiden Grundschuljahren. Dann geht es auch schon los mit Leistungsdruck, Konkurrenzkampf und erbarmungsloser Selektion, dann beginnt der Ernst des Lebens. Zwar finden sich auch an den weiterführenden Schulen immer noch Lehrer, die es besser machen wollen und den pädagogischen Rohrstock lieber in der Ecke lassen, in die er gehört, aber eben diese Lehrer scheitern mittlerweile nahezu ausnahmslos an einem starren Bildungssystem, das kaum noch Raum läßt für irgendetwas außerhalb der Rahmenrichtlinien.
Und je weniger die übrigen Lehrer zu vermitteln haben, desto mehr versuchen sie, ihre Autorität durch bloße Repression zu sichern, indem sie Schüler mit Hilfe von schlechten Zensuren abstrafen und die strikte Einhaltung höchst fragwürdiger Regeln fordern. Sie fühlen sich von oben alleingelassen und geben den Druck an die Schüler weiter – und die sind die Dummen und landen dann in der Häschengrube. Schule als Institution hat häufig genug kaum noch etwas mit Lernen oder Erkenntnis zu tun, sondern nur mit dem kurzfristigen Ansammeln von Faktenwissen für die nächste Prüfung. Es geht nur noch darum, den Anforderungen gerecht zu werden, es entsteht kein Wissen, es wird nicht reflektiert, Denken wird systematisch unterbunden, weil es nicht im Lehrplan steht. Schule zermalmt Neugier, Kreativität, eigenständiges Denken, Lust auf Verantwortung, das ist die traurige Wahrheit, die fast jeder, der schulpflichtige Kinder hat, aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann. Aber noch mal, es geht nicht in erster Linie um die Lehrer, sondern um das System – und wer weiterhin und wider besseres Wissen am dreigliedrigen Schulsystem festhält, der begeht ein Verbrechen an den Schülern und der Gesellschaft, das kein Lehrer jemals wiedergutmachen kann. Im übrigen sollte er schleunigst aufhören, von der vermeintlich heilen Welt der »Häschenschule« zu träumen, denn dort wurde und wird ganz nebenbei genau das zementiert, was das Kind ja erst in den Brunnen hat fallen lassen: Das bedenkenlose »Ja und Amen« zu allem und vor allem zu vielem, was unbedingt hinterfragt gehörte und gehört. Nur wer sich nicht alles widerspruchslos erzählen läßt, kann rechtzeitig erkennen, wo Fuchs und Hase sich »Gute Nacht« sagen, oder andersrum: Wer das Maul nicht aufmacht, wird dumm! Der Traum von der »Häschenschule« jedenfalls ist fatal und verwechselt leider Ursache und Wirkung, da helfen auch die schönen bunten Bilder nicht.
Trotzdem wünsche ich allen schöne Festtage – und wenn Papa dann die Serviette vorgebunden hat und Mama den Braten aus der Röhre holt, dann hat es wahrscheinlich den frechen Hasen Max erwischt, der ja schon immer Widerworte hatte und nicht hören wollte und den das Leben nun folgerichtig mit dem Bratentod bestraft hat. Frohe Ostern! Oder erst mal Frohe Weihnachten! Da wird die »Häschenschule« gewiß wieder unter vielen Lichterbäumen liegen.