»... konnte ich das Antlitz des Shylocks nirgends erblicken. Und doch war es mir, als halte er sich dort verborgen, unter irgendeinem weißen Talare, inbrünstiger betend als seine übrigen Glaubensgenossen, mit stürmischer Wildheit, ja mit Raserei hinaufbetend zum Throne Jehovas, des harten Gottkönigs! Ich sah ihn nicht. Aber gegen Abend [...] hörte ich eine Stimme, worin Tränen rieselten. Es war ein Schluchzen [...] Es waren Schmerzlaute, wie sie nur aus einer Brust kommen, die all das Martyrtum, welches ein ganzes gequältes Volk seit achtzehnhundert Jahren ertragen hat, in sich verschlossen hielt. [...] Es war das Röcheln einer Seele, welche todmüde niedersinkt. Und diese Stimme schien mir wohlbekannt, und mir war, als hätt ich sie einst gehört, wie sie ebenso verzweiflungsvoll jammerte: ›Jessica, mein Kind!‹«
So hörte Heinrich Heine 1828 in Venedig, was er 1839/40 in seinem Buch »Shakespeares Mädchen und Frauen« aufschrieb. Er hörte es als Jude. Ich hörte jedoch in der jüngsten Inszenierung des »Kaufmanns von Venedig« von Armin Petras im Maxim Gorki Theater Berlin nichts dergleichen. Weder Qual und Schmerz noch Haß und Raserei – es parliert sich so dahin. Man hat die berühmte, doch eher zahme Übersetzung von August-Wilhelm Schlegel gewählt und sie mit guten Texten von Lion Feuchtwanger und heutigen Plattheiten durchsetzt und stark gekürzt. Nur noch neun Rollen blieben übrig, das Spiel dauerte weniger als zwei Stunden, da fehlte fast die Hälfte. Vom historischen Ambiente sah man kaum etwas, eine Art Palastportikus war angedeutet, sonst leerer Raum (verantwortlich für das Szenenbild: Natascha von Steiger).
Hauptfehler der Produktion war die Besetzung des Antonio und des Shylock mit Frauen (Cristin König und Petra Zimmermann). Sollte es daran gelegen haben, daß dem Regisseur geeignete männliche Darsteller fehlten? Dann sollte man dieses schwere Stück nicht spielen. Diese Besetzung ergab kaum Sinn, sie verkleinerte, verhübschte das Ganze, und das paßt zu diesem Drama am allerwenigsten. Die netten Kostümchen mit Hütchen, die man diesen Männer spielenden Frauen angetan hatte, machten das Geschehen und das Thema nicht mal komisch, sondern lächerlich.
Die große Anklage des Shylock im 3. Aufzug, 1. Szene, durch Fritz Kortner berühmt geworden wie durch Fred Düren am Deutschen Theater Berlin 1985 in der Inszenierung von Thomas Langhoff, ist die gedankliche Nahtstelle des Stückes. Sie kam hier vom Obergeschoß der Szene aus einem Teppich-Zimmer über einer Eskaladierwand, an der die meist jungen Schauspieler zeigten, wie gut sie klettern können. Sie kam nur als Geschrei, der große pure Schmerz war nicht zu hören. Und der Streit im 4. Aufzug vor einer Art Palast-Front wirkte so harmlos wie Weibergezänk beim Kaffeeklatsch. Dabei geht es um Leben und Tod und um die Würde des Juden, um Haß und Rache, Recht und Gerechtigkeit.
Bassanio (Michaelo Klammer), der Veranlasser der Vorgänge (Geldpump und Nicht-Rückzahlbarkeit), ein eher geistig verwahrloster Dandy, redete seine Parts, als ob er nicht dazugehörte. Kaum eine Gestalt hatte so etwas, was man seit Brecht sozialen Gestus nennt. Wer das Stück nicht kannte, konnte seine Gründe und Folgen nicht ermessen.
Judenfeindschaft gab es auch in elisabethanischer Zeit, aber Shakespeare als Humanist und Dramatiker par excellence hielt das Gleichgewicht. Er zeigte das Unrecht an Shylock, aber auch dessen verzweifelt-falschen Mittel (andere hatte der Jude nicht) und letztlich dessen Tragik: Wieder ward ein Jude geschlagen und mußte aufgeben. Die Balance der Gerechtigkeit ging in dieser Inszenierung verloren, Shylock hatte kaum noch recht, die Stimme des Zornes kam nicht durch, der geschlagene Jude schlich ab, die Gesellschaft konnte sich zurücklehnen. Das war hart an der Grenze zum Antisemitismus.
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Ganz anders die neue Inszenierung des »Peer Gynt« durch Jan Bosse im gleichen Hause am Abend danach. Auch ein Großwerk, doch wie verschieden: Ein Schwindler, Hochstapler, Chaot und Vagabund strebt vom Mutterschoß der Aase durch eine wüste Welt in den Schoß einer Frau, die dann Solveig heißt. Dazwischen abenteuert er, versucht sich als Unternehmer, begeht ein paar Lumpereien und entdeckt sich dabei selbst, seine Identität, arbeitet daran, kommt aber über den mittleren Lumpen nicht hinaus. Andererseits zeigt er in seinem Drang, die Welt zu entdecken und zu formen, faustische Züge, daher gilt er als nordischer Faust.
Er hat allerlei Begegnungen, die ihm Welt eröffnen. Bewältigen kann er sie nicht. So kehrt er reuig zurück an den Heimatort. Das ist gewaltig rührselig. Doch das Stück hat ironische bis satirische Züge, und nur so kann man es heute noch annehmen: Der Peer ist so eine Art Märchenkönig und zugleich Selbstironiker – eine Paraderolle für gute Schauspieler. Das weiß Jens Harzer für sich zu nutzen; er spielt ziemlich souverän die Klaviatur dieses Buches, sozusagen wie eine Partitur, und just das macht am Abend Freude. Der arge Weg der Erkenntnis wird gekonnt holprig beschritten – mit dem bekannten Ergebnis. Freilich: Dem redseligen Schluß vermag auch er nicht die Langeweile zu nehmen. Das, was einst als Weisheit galt, ist heute nur schwer noch zu ertragen – die Szene des Knopfgießers vielleicht ausgenommen; doch diese Rolle wird von Karin Neuheuser verschenkt, die auch Aase und den Krummen spielen muß. Höhepunkt des Abends ist Aases Sterbeszene mit Peer – zum Ende des ersten Teils. Der zweite ist ohnedies der schwächere und verläuft im Gerede. Zum Glück ist kräftig gekürzt worden – hier so nützlich wie legitim. Acht Schauspieler bewältigten fast 30 Rollen. Aus ökonomischen Gründen verständlich – künstlerisch genügt es kaum, die Farbigkeit des Stückes ist dahin; nur wenige Szenen zeigen, daß sie Stufen auf Peers Erkenntnisweg sind.
Die großen Klassiker sind offenbar immer schwerer zu bewältigen – woran liegt es? Wäre das nicht eine öffentliche Debatte wert?