1933 lebte ich ein halbes Jahr lang in Nahalal, dem legendären ersten genossenschaftlich organisierten Dorf. Als ich es zum ersten Mal sah, bewunderte ich das kommunale Hallengebäude, die Molkerei und die große Landwirtschaftsschule für Mädchen (ihr einziger männlicher Schüler war der spätere Verteidigungsminister Mosche Dajan). Aus Neugier fragte ich nach der Synagoge, und man zeigte mir eine marode Holzbaracke. »Die ist für die Alten«, sagte mir einer der Jungen des Ortes mitleidig.
Man kann nicht verstehen, was seitdem geschehen ist, ohne zu wissen, daß in jenen Tagen beinahe jeder glaubte, daß die jüdische Religion ebenso wie die Jiddisch sprechenden alten Leute, die immer noch an ihr hingen, langsam verschwinden würden. Wenn jemand vorausgesagt hätte, daß die jüdische Religion den zukünftigen Staat dominieren würde, hätten die Menschen ihn ausgelacht.
Der Zionismus lehnte sich gegen die Halacha (das religiöse Gesetz) auf, das Juden verbot, in Massen in das heilige Land »hinaufzusteigen«. Gemäß dem religiösen Mythos hatte Gott die Juden als Vergeltung für ihre Sünden aus dem Land verbannt. Nur er allein besaß das Recht, sie zurückzubringen. Nahezu alle bedeutenden Rabbiner – sowohl die Chassidim als auch ihre Gegner – verfluchten daher die Gründer des Zionismus. Bei allen internationalen Konferenzen, die der Errichtung des Staates vorausgingen, erschienen Delegationen orthodoxer Juden, um sich den zionistischen Delegationen entgegenzustellen.
Aber David Ben Gurion, der sich sogar bei Beerdigungen weigerte, eine Kippa zu tragen (obwohl dort auch die meisten Atheisten dem Glauben anderer diese Geste erwiesen), hielt es für erstrebenswert, die Orthodoxen in seine Regierungskoalition einzubeziehen. Deshalb versprach er ihnen, einige hundert Jeschiwa-Studenten (Jeschiwa = religiöses Seminar) vom Militärdienst zu befreien und ihre Studiengebühren und Unterhaltskosten zu zahlen, so daß sie nicht verpflichtet waren, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.
Die Konsequenzen hatte keiner erwartet. Seine kleine Geste nahm monströse Proportionen an. Heutzutage könnte man einige Armeedivisionen mit denen bemannen, die vom Militärdienst befreit sind. Sie betragen 13 Prozent eines Wehrpflichtigen-Jahrgangs. Darüber hinaus üben 65 Prozent aller männlichen orthodoxen Bürger keinerlei Arbeit aus und leben von der Öffentlichen Hand.
Die Situation ist absurd: Der Staat zahlt für den Unterhalt einer wachsenden, durch die Thora geschützten Bevölkerungsgruppe, die ihn unterminiert. Hunderttausende junger religiöser Menschen werden vom Staat bezahlt, der sie damit von der Arbeit (Gott behüte!) fernhält. Er unterstützt sie großzügig, so daß sie mehr und mehr Kinder zeugen können (5 bis 15 pro Familie), von denen die meisten weder jemals arbeiten noch in der Armee dienen werden. Man kann genau ausrechnen, wann die Wirtschaft, zusammen mit dem Wohlfahrtsstaat und der »Bürger«-Armee, die auf der Wehrpflicht basiert, kollabieren wird.
Das alles ist eine authentisch israelische Erfindung. In der übrigen Welt arbeiten die orthodoxen Juden wie jeder andere.
Das orthodoxe Lager in Israel ist wie ein Loch, das alles schluckt, was ihm zu nahe kommt, zum Beispiel die orientalischen Juden, die aus islamischen Ländern kamen. Sie werden häufig »Sephardim« (Spanier) genannt, obwohl nur ein Teil von ihnen tatsächlich von den Juden abstammt, die im Jahre 1492 aus Spanien vertrieben worden sind.
Die religiöse Tradition der Sephardim war immer bei weitem toleranter als die aschkenasische. Sie schließt die Lehren solcher Weisen wie Rabbi Mosche ben Maimon (Maimonides), des Leibarztes von Saladin dem Großen, ein. Maimonides verbot Religionsgelehrten, ihren Lebensunterhalt mit ihren Lehren zu verdienen, und befahl ihnen, hinauszugehen und zu arbeiten.
Wer hätte gedacht, daß sich die Sephardim, als sie nach Israel kamen, den Aschkenasim unterordnen und deren Dogmatismus ebenso annehmen würden wie den Kaftan und den Hut, der ursprünglich aus dem kalten Osteuropa stammt, wo er in den vergangenen Jahrhunderten von der nicht-jüdischen Oberschicht getragen worden war. Ihre Sephardim-Partei, die Schas, hat sich sklavisch der aschkenasischen Orthodoxie untergeordnet. Ihr spiritueller Führer ist der Rabbiner Ovadja Josef.
Ende November geschah ein Wunder. Ein sephardischer Rabbiner, Haim Amsalem, rebellierte gegen Ovadja und dessen Partei und forderte eine Rückkehr zu den sephardischen Traditionen der Toleranz. Er wurde auf der Stelle exkommuniziert.
Zu Beginn der Staatsgründung waren die orthodoxen Aschkenasim zwar in ihren religiösen Überzeugungen extrem, in nationalen Angelegenheiten dagegen gemäßigt. Sie feierten nicht nur den Unabhängigkeitstag des zionistischen Staates nicht und grüßten die Flagge der zionistischen Ketzer nicht, sondern verhinderten auch nationale Abenteuer von David Ben Gurion, Mosche Dajan und Schimon Peres. Später opponierten sie gegen die Annexion palästinensischer Gebiete – nicht aufgrund einer außergewöhnlichen Liebe zum Frieden oder zu den Palästinensern, sondern weil die halachischen Regeln verbieten, Nicht-Juden zu provozieren, weil sonst den Juden Schaden entstehen könnte.
Als die Orthodoxen Siedlungen errichteten, taten sie dies nicht aus ideologischem Eifer, sondern weil sie Behausungen für ihren immer zahlreicher werdenden Nachwuchs brauchten. Die Regierung gab ihnen nur billiges Land hinter der Grünen Linie. Jetzt sind die größten Siedlungen die der Orthodoxen: Beitar Illit, Immanuel und Modi’in Illit; die letzte liegt auf dem Land, das dem arabischen Dorf Bi’lin gestohlen wurde.
Dank der massiven Unterstützung der zionistischen Führung wuchs das national-religiöse Lager in Israel in atemberaubender Geschwindigkeit. Ben Gurion richtete eine besondere Abteilung des Bildungssystems ein, die von Jahr zu Jahr extremer wurde, genau wie die national-religiöse Jugendbewegung Bne Akiwa. Seit dem Beginn der Besetzung arabischer Gebiete schuf Gusch Emunim (Block der Gläubigen) den ideologischen Kern der Siedlungsbewegung. Heute wird dieses Lager von Rabbinern geleitet, deren Lehren einen beißenden Faschismusgeruch verbreiten.
Das alles wäre halb so schlimm, wenn die beiden opponierenden religiösen Fraktionen sich gegenseitig neutralisieren würden, so wie es vor fünfzig Jahren der Fall war. Aber seit dieser Zeit entwickelte sich das Gegenteil. Die National-Religiösen wurden auf religiöser Ebene immer extremer und die Orthodoxen auf nationaler Ebene. Die beiden Fraktionen stehen sich inzwischen sehr nahe und bilden gemeinsam einen orthodoxen national-religiösen Block.
Die Jugendlichen der national-religiösen Fraktion verachten die lauwarme Religiosität ihrer Väter und bewundern die starke Religiosität der Orthodoxen. Die Jugendlichen der orthodoxen Fraktion werden von der nationalistischen Melodie verführt – im Gegensatz zu ihren Vätern, für die Israel ein Staat wie jeder Nicht-Judenstaat war. Die Union der beiden Fraktionen basiert auf dem Wesen der jüdischen Religion, wie sie in Israel gepflegt wird. Sie gleicht nicht dem Judaismus, der in der Diaspora existiert hat – weder dem orthodoxen Judentum noch dem Reform-Modell. Man muß es sagen: Die jüdische Religion in Israel ist eine Mutation des Judaismus, ein stammes-rassistischer, extrem nationalistischer und anti-demokratischer Glaube.
Heutzutage gibt es drei religiöse Bildungssysteme – das national-religiöse, das »unabhängige« der Orthodoxen und »el-Hama’ayan« (»zu der Quelle«) der Schas. Alle drei werden vom Staat zu mindestens 100 Prozent, wenn nicht sogar noch mehr, finanziert. Verglichen mit ihren Übereinstimmungen sind die Unterschiede sehr gering. Alle lehren ihre Schüler nur die Geschichte des jüdischen Volkes (basierend auf den religiösen Mythen), nichts über die Weltgeschichte, nichts über andere Völker, erst recht nicht über andere Religionen. Der Koran und das Neue Testament sind der Kern alles Bösen, von ihnen muß man sich fernhalten.
Der typische Absolvent dieser Systeme »weiß«, daß die Juden das auserwählte Volk sind (und über alle erhaben), daß alle Nicht-Juden bösartige Anti-Semiten sind, daß Gott uns dieses Land versprochen hat und daß niemand sonst das Recht auf einen Quadratmeter dieses Landes hat. Die natürliche Schlußfolgerung ist, daß die »Fremden« (darunter verstehen sie die Araber, die hier mindestens seit dreizehn Jahrhunderten leben) vertrieben werden müssen – es sei denn, die Juden würden dadurch gefährdet.
Von diesem Standpunkt aus gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den Orthodoxen und den National-Religiösen, zwischen Aschkenasim und Sephardim. Wenn man die »Jugend der Hügel« auf dem Bildschirm sieht, wie sie die Araber in den besetzten Gebieten terrorisieren, kann man zwischen ihnen nicht unterscheiden – weder nach ihre Kleidung, noch nach ihrer Körpersprache und ihren Slogans.
Die Quelle all diesen Übels aber ist die Ursünde des Staates Israel: die Nicht-Trennung zwischen Staat und Religion, die auf der Nicht-Trennung von Nation und Religion basiert. Nichts außer einer vollständigen Trennung zwischen den beiden wird Israel vor der totalen Vorherrschaft dieser religiösen Fehlentwicklung bewahren.
Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf/Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert, von der Redaktion gekürzt