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Titel2510

Rätselhafte Linke  (Ralph Hartmann)

Der Wähler ist ein seltsames Wesen, umworben und mißachtet, entscheidungsfreudig und wankelmütig, nachtragend und vergeßlich. Demoskopen, Politologen und Politikern gibt er immer wieder Rätsel auf. Was hat 14,6 Prozent der Wähler, also 6,3 Millionen Bundesbürger bewogen, ihre Stimme der Westerwelle-Niebel-Brüderle-FDP zu geben? Wer kann schlüssig erklären, wieso die Grünen unter Roth, Özdemir, Künast und Trittin in Umfragen von Hoch zu Hoch geeilt sind und mittlerweile über 20 Prozent liegen? Und ist es nicht auch ein wenig rätselhaft, daß in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrisen, rabiaten Sozialabbaus und fortgesetzter Umverteilung von unten nach oben ausgerechnet die Linke bei neun bis zehn Prozent stagniert?
In vielen Grundfragen vertritt die Linkspartei Positionen, die mit der Meinung großer Teile der Bevölkerung übereinstimmen. Sieben von zehn Deutschen sind laut jüngsten Umfragen der Auffassung, daß es in der Bundesrepublik »nicht gerecht« zugeht. Sie betrachten soziale Gerechtigkeit als einen Grundwert einer freien und demokratischen Ordnung. Das ist exakt der Standpunkt der Linken.
Die große Mehrheit der Bürger lehnt die gemeinsam von der rot-grünen Regierung und der schwarz-gelben Opposition verabschiedeten Hartz-Gesetze ab. Die Linke hat diese sozialen Schandtaten stets verurteilt und Hartz IV als »Armut per Gesetz« angeprangert. Ihre strikte Ablehnung der Rente mit 67 entspricht der Auffassung von 70 Prozent der Bürger.
In Übereinstimmung mit großen Teilen der Wählerschaft fordert Die Linke einen bundesweit geltenden Mindestlohn, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I wie auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und das Verbot des Handels mit Giftpapieren. Sie begrüßt es, daß die SPD diese und andere Forderungen inzwischen von der Linken übernommen beziehungsweise abgeschrieben hat, und sie sieht darin zu Recht einen Beweis dafür, daß Druck von links wirkt.
62 Prozent der Bundesbürger lehnen den Krieg in Afghanistan ab und fordern den Rückzug der Bundeswehr. Die Linke hat die NATO-Intervention von Anfang an verurteilt und tritt – als einzige Partei im Bundestag – für den sofortigen Abzug der deutschen Truppen ein.
Neuerdings ist auch das Vertrauen der Deutschen in die »Soziale Marktwirtschaft« auf ein Rekordtief gefallen. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken hervor, nach der nur noch 48 Prozent der Meinung sind, die Wirtschaftsordnung der BRD habe sich bewährt. Einige Medien, so die Berliner Zeitung, berichteten darüber unter der Schlagzeile: »Bundesbürger stellen die Systemfrage«. Nahezu wortwörtlich gebrauchte diese Formulierung der ehemalige Ko-Vorsitzende Lothar Bisky schon auf dem Gründungsparteitag der Linkspartei: »Wir diskutieren die Veränderung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Wir stellen die Systemfrage.«
In den genannten und in anderen Fragen schwankt die Übereinstimmung der Auffassungen der wahlberechtigten Bürger und der Linken zwischen 45 und 75 Prozent, aber in den Umfragen dümpelt die Partei bei neun bis zehn Prozent. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Sind die Gründe etwa darin zu suchen, daß viele Wähler argwöhnen, in der Linken gehe noch immer der aus SED-Zeiten bekannte Geist der »Einheit und Geschlossenheit« um und behindere den freien und demokratischen Meinungsaustausch? Daß das nicht der Fall sein kann, beweist allein schon die lebhafte, teilweise hitzige innerparteiliche Debatte um das anvisierte Grundsatzprogramm. Ganz zu schweigen davon, daß es in keiner anderen Partei so viele Strömungen und Flügel wie in der Linken gibt. Selbst dem politisch interessierten Bürger fällt es schwer, sie auseinanderzuhalten: die Antikapitalistischen Linken, das Forum Demokratischer Sozialisten, die Sozialistischen Linken, die Kommunistische Plattform, das Marxistische Forum, die Emanzipatorischen Linken.
Es fehlt also nicht an Pluralität und nicht an kritischem Umgang der Partei mit sich selber. Unvergessen sind zum Beispiel der böse Streit um die neue Führung vor dem Rostocker Parteitag und die Attacken auf den Ko-Vorsitzenden Klaus Ernst. Wie intensiv sich die Partei mit inneren Problemen beschäftigt, zeigt auch der letzte Bericht der Bundesschiedskommission, wonach in einer kurzen Periode 257 Verfahren anhängig waren. Auch die Landesschiedskommissionen sind nicht müßig, allein die im Saarland bearbeitete in den letzten eineinhalb Jahren 145 Verfahren. Mangel an Selbstbeschäftigung kann der Linkspartei keinesfalls vorgeworfen werden. Gregor Gysi bemängelte im Gegenteil, die Partei sei nach der Bundestagswahl in Selbstbeschäftigung verfallen.
Oder ist der Linkspartei anzulasten, daß sie, wie in Berlin und Brandenburg geschehen, in Regierungsverantwortung gegenüber dem größeren Koalitionspartner Kompromisse eingeht, die die Wähler nicht erwartet haben, und daß sie so an Glaubwürdigkeit einbüßt? Aber damit verhält sie sich doch nicht anders als andere Parteien, die meinen, Opposition sei Mist, und auch dann regieren wollen, wenn der Preis hoch ist. Oder erwarten die Wähler etwa gerade umgekehrt, daß sich die Linke im Gegensatz zu den anderen starrköpfig an ihre Programme und Wahlaussagen hält?
Manche Politiker der Linkspartei klagen, die meinungsstiftenden Medien, ARD, ZDF, Bild, Spiegel, Focus und andere, seien schuld an der Misere. Nein, es trifft nicht zu, daß die Partei dort glatt verschwiegen worden wäre. Im stürmischen Oktober wurde über die Haltung der Linken zu aktuellen Fragen zwar weitaus seltener als über die der Grünen informiert, in den Hauptnachrichten des ZDF zum Beispiel 15 mal (in Worten: fünfzehn mal) weniger, aber immerhin, es wurde berichtet.
Und gibt sich nicht das Neue Deutschland alle Mühe, die Linke im rechten Licht darzustellen? Hat das Blatt nicht über die Grundsatzrede von Oskar Lafontaine kürzlich auf dem Programmkonvent in Hannover mit etwa so viel Zeilen berichtet, wie es dazu einem kritischen Leserbrief eingeräumt hat? Ist es nicht das Recht des Blattes, bissig und viermal länger über eine Änderung in der Landessatzung der saarländischen Linken zu berichten als über Lafontaines mit Jubel aufgenommene Rede?
Die »Sozialistische Tageszeitung« hütet sich eben, mit der Veröffentlichung von Reden führender Linkspolitiker Erinnerungen an ihre Vorläuferin, das Zentralorgan des ZK der SED, zu wecken. Es sei denn, wie mit beträchtlichem zeitlichem Abstand zum Programmkonvent geschehen, die Linkspartei finanziert eine Beilage mit dem Wortlaut der dort gehaltenen wichtigsten Reden. In den großen systemtreuen Medien wäre das weder mach- noch finanzierbar.
Wenn jedoch die Linke alles Linke, das sie an sich hat, abschütteln würde, dann hätte sie die Chance, viel häufiger von den Medien genannt und eines Tages sogar als »koalitionsfähig« dargestellt zu werden. Die Sache ist schließlich ganz einfach: Ohne die Medienkonzerne geht es nun einmal nicht. Die Linke muß den Steuerentlastungen für Reiche, der längeren Lebensarbeitszeit, der Senkung von Sozialleistungen, verstärkter Aufrüstung und weiteren Kriegen zustimmen, also zentrale Wahlaussagen verleugnen; dann werden die medialen Meinungsstifter davon Notiz nehmen und ihr bescheinigen, daß sich in ihren Reihen die realistischen, pragmatischen, verantwortungsbewußten Kräfte durchgesetzt haben.
Hernach würden auch die Umfrageergebnisse der Linken keine Rätsel mehr aufgeben, die Partei selbst wäre überflüssig und dann endlich auch weniger rätselhaft.