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Titel2510

Gaucks Tränen  (Hans Krieger)

Bundespräsident wäre er nur beinahe geworden, aber Träger des Geschwister-Scholl-Preises ist er nun wirklich – jenes Preises, den die Stadt München und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit drei Dezennien alljährlich an den Autor eines Buches vergeben, das »intellektuellen, moralischen und ästhetischen Mut« beweist und »dem Gegenwartsbewußtsein wichtige Impulse« gibt, also irgendwie mit dem todesmutigen Idealismus der Mitglieder der »Weißen Rose« in Verbindung gebracht werden kann. Ausgezeichnet wurde Joachim Gauck für sein Buch »Winter im Sommer – Frühling im Herbst«, laut der Jury-Begründung die »Autobiographie eines Mannes, der wie wenige andere über seine Opposition zur DDR-Führung und die Aufarbeitung des DDR-Unrechts identifiziert wird«. Konkretes über die Qualitäten des Buches weiß die Jury nicht zu sagen; als Kriterium der Preiswürdigkeit findet sie aber erwähnenswert, daß Gauck für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert und damit »eine Debatte ausgelöst« habe, »die auf ungewöhnlich deutliche Weise politische Sehnsüchte und Verwerfungen im Lande offen legte«. Nichts hat das mit dem Buch zu tun, über das nur gesagt wird, es zeige, daß für Gauck auf die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, »die Antwort ganz einfach« ist: »Die DDR-Führung nahm ihren Bürgern die Freiheit, und das war unrecht« (mit kleinem u!). Gaucks Sehnsucht nach Freiheit – dies sei der Geist, »in dem auch die Geschwister Scholl gehandelt haben«.

Daß diese etwas nebulöse Freiheit für ihn auch die Freiheit der Wirtschaft einschließt und daß ihn wenig interessiert, ob die Freiheit der Wirtschaft auch die Freiheit zur Ausbeutung bedeutet, hat der Preisträger bei anderer Gelegenheit erkennen lassen. In seiner nichtendenwollenden, partienweise vom Geist der »Moralischen Aufrüstung« im Kalten Krieg getragenen Dankrede ebnete der vage Freiheitsbegriff den Unterschied zwischen den »beiden deutschen Diktaturen« ein (von denen bekanntlich nur eine einen Vernichtungskrieg mit 55 Millionen Toten geführt und Millionen Juden fabrikmäßig ermordet hat). Doch der stahlharte »Stasi«-Jäger gab sich unerwartet weichherzig. Die Tränen seien ihm übers Gesicht gelaufen, als ihm klar wurde, warum er sich so lange gegen das Schreiben des Buches gesträubt hatte: Endlich habe er Gefühle zulassen können, die er jahrelang übergangen habe. Insofern habe das Buch ihn »verändert«.

Warum aber die Tränen? Gauck trauerte um die versäumte Freiheit, und da darf man ein wenig staunen. Denn Gauck hatte die Möglichkeit wegzugehen, entschied sich aber fürs Bleiben. War nicht dies sein verantwortlicher Gebrauch der Freiheit, in der DDR zu bleiben, um als Pfarrer seiner Gemeinde und seiner Kirche Mut zu machen zum Ausharren unter schwierigen Bedingungen? War es nicht sein Gebrauch der Freiheit, für diese herausfordernde Aufgabe auch den Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit nicht zu scheuen und als Anerkennung für seine Kooperationsbereitschaft Vergünstigungen anzunehmen? Wenn es wahr ist, daß die Erinnerungsarbeit am Buch ihn verändert hat, dann wird er jetzt wohl ein wenig milder und verständnisvoller über Verstrickungsschicksale denken, die sich von seinem eigenen Dilemma nur dem Grade nach unterscheiden und das Richten und Aburteilen nicht ganz so einfach machen, wie es die Selbstgerechtigkeit gerne hätte. Wir werden also wohl demnächst Worte des Bedauerns hören über die gnadenlose Härte der Aufarbeitungs-Inquisition, etwa über die Diffamierungskampagne gegen Stefan Heym und Gregor Gysi. Und vielleicht sogar das Eingeständnis, daß es besser gewesen wäre, mit Schorlemmers »Freudenfeuer« den Stasi-Ungeist zu bannen, statt uns mit Verfolgungshysterie an ihm zu vergiften.

Apropos: Im Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit geheimdienstlicher Überwachung der Linkspartei gab der Anwalt der Verfassungsschutzbehörde als einen Beleg für die Gefährlichkeit dieser Partei an, daß sie nicht für Gauck als Bundespräsidenten gestimmt hat.

Red.