Mit einer folgenschweren Rede im Bonner Bundestag schwenkte Herbert Wehner, der »starke Mann« der SPD, am 30. Juni 1960, ohne die Beschlußgremien der Partei konsultiert zu haben, auf den jahrelang bekämpften NATO-Kurs von Bundeskanzler Adenauer ein. Damit fehlte eine außenpolitische Opposition zum riskanten Rüstungs- und Konfrontationskurs der CDU-geführten Bundesregierung. Sollte man nun eine Sozialistische Partei links von der SPD gründen? Dazu fehlten viele Voraussetzungen. Friedensorientierte Akteure unterschiedlicher sozialer und ideologischer Herkunft begannen Diskussionen über eine politische Alternative, und da der SPD-Parteitag in Hannover im Herbst 1960 Wehners Kurswechsel nicht korrigierte, nahmen diese Überlegungen konkrete Gestalt an.
Die damalige Vorsitzende der deutschen Sektion der Internationale der Kriegsdienstverweigerer (IdK), Professorin Renate Riemeck, sowie der einstige Mitbegründer der CDU, Karl Graf von Westphalen, Repräsentanten des Bundes der Deutschen (BdD) wie Wilhelm Elfes und der Sprecher der Vereinigung unabhängiger Sozialdemokraten (VuS), Gerhard Gleissberg, Chefredakteur und Herausgeber der Anderen Zeitung, führten Gespräche über eine zu gründende Sammlungsbewegung für Frieden, Abrüstung und intersystemare Verständigung. Unter den Bedingungen der bedrohlichen Hochrüstung in West und Ost war dies eine Notwendigkeit. Eine »Union« verschiedener politischer Akteure sollte es sein, auch wenn man genötigt war, eine Partei zu gründen, denn nur dann war eine Teilnahme an der Bundestagswahl möglich. Man einigte sich auf den Namen Deutsche Friedens-Union (DFU). Ein Bundesvorstand und ein dreiköpfiges Direktorium sollten das Bündnis leiten. Benannt wurden die protestantische Wissenschaftlerin Riemeck und der patriotisch-katholische Graf von Westphalen, die Sozialisten schlugen den ehemaligen Spitzenfunktionär der SPD und ehemaligen Bundessekretär der Sozialistischen Jugend, Lorenz Knorr, vor. Damit wollte man die politische Breite des Bündnisses dokumentieren.
Am 17. Dezember 1960 fand in Stuttgart der Gründungskongreß statt. Das von Renate Riemeck präsentierte »Manifest« hatte programmatischen Charakter. Ein 40-köpfiger Bundesvorstand und ein »Beirat« mit Repräsentanten unterstützender Organisationen wurde gewählt. Als geschäftsführendes Direktoriumsmitglied wurde ich beauftragt, für den Aufbau der Landesgeschäftsstellen und die Nominierung der Wahlkreiskandidaten zu sorgen. Zudem mußte eine neue Partei einige Tausend Unterschriften präsentieren, um zur Wahl zugelassen zu werden.
Renate Riemeck und ich referierten auf den Gründungskonferenzen der Landesverbände; Karl Graf von Westphalen sorgte für die Finanzierung. Das Spendenaufkommen war beträchtlich. Viele Außenstehende halfen der DFU mit Geld.
Der weltbekannte Urwald-Doktor Albert Schweitzer, Warner vor den Atomgefahren und Friedensnobelpreisträger, unterstützte die DFU; er gestattete, sein Portrait für ein Werbeplakat zu verwenden.
»BRD atomwaffenfrei« lautete der gängige Slogan. Die DFU war die einzige Partei, die für Verhandlungen mit den östlichen Nachbarstaaten eintrat. Und konkrete Vorschläge zur Abrüstung präsentierte.
Auf diese Vorschläge (vor allem den, auch mit der verhaßten DDR zu verhandeln), reagierten die Bonner Parteien mit Diffamierungen wie »Handlanger Moskaus!« oder »Die Freunde Ulbrichts« = DFU. Die Wahlkreiskandidaten der DFU warben mit Parolen wie »Eine dritte deutsche Katastrophe darf es nicht geben!« oder »Rüstungskosten für Sozialinvestitionen!« Während andere Parteien das Blaue vom Himmel versprachen, ohne die Finanzierungsfrage zu beantworten, erklärte die DFU: »Durch Senkung der immensen Rüstungskosten sind Sozialprogramme zu finanzieren!« Der bekannte SPD-Abgeordnete und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann erklärte: »Sollte die DFU die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen, ändert sich nichts! Kommt sie jedoch in den Bundestag, muß die SPD ihre Politik ändern, wenn sie nicht Abgeordnete und Wähler an die DFU verlieren will!«
Im Juli 1961 sagten Umfragen etwa fünf Prozent der Wählerstimmen für die DFU voraus. Der Sprung ins Parlament hätte gelingen können. Nach dem Mauerbau in Berlin am 13. August wiesen die Bonner Parteien der DFU die Verantwortung zu. Die antikommunistische Hetze konzentrierte sich auf die Alternativpartei. Die SPD ließ massenhaft eine Hetzbroschüre verbreiten: »Die Freunde Ulbrichts: DFU!« Am 17. September stimmten 610.000 Wähler für die DFU: 1,9 Prozent. Die Fünf-Prozent-Klausel versperrte den Weg in den Bundestag.
Trotz der Enttäuschung über den Mißerfolg blieb die DFU mit ihren konkreten Vorschlägen zum Überleben der Menschheit im Atomzeitalter weiter in der politischen Offensive. Mit ihren friedenspolitischen Vorschlägen und solchen zur Erneuerung der Demokratie wirkte sie auf das gesellschaftliche Bewußtsein in der BRD. Sie bereitete den Boden für eine offizielle Politik, die der spätere Bundeskanzler Willy Brandt zumindest teilweise realisierte. Sie organisierte aber auch die – letztlich erfolgreiche – Solidarität mit den Tausenden Opfern der unter Brandt eingeführten antikommunistischen und antidemokratischen Berufsverbote.
Unser Autor Lorenz Knorr, der im kommenden Jahr 90 wird, stellt zur Zeit sein Buch über den »Generalsprozeß« fertig, einen Tiefpunkt der bundesdeutschen Justiz. Und immer noch ist er oft als Vortragsredner unterwegs. Die Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde in Berlin hat ihn soeben mit ihrem Menschenrechtspreis geehrt.