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Frauen in Kurdistan  (Ulla Jelpke)

Wer an die Situation der Frau in den kurdischen Teilen der Türkei denkt, dem fallen meist Schlagworte wie Zwangsehe, Polygamie oder Ehrenmord ein. Auch die deutsche Presse zeichnet immer wieder dieses Bild von der Lebenssituation der Kurdinnen. Im Oktober diesen Jahres habe ich wieder einmal eine Rundreise durch das türkische Kurdistan unternommen und tatsächlich: Feudale Strukturen und Denkweisen sind in Kurdistan stark verwurzelt. Doch kaum jemand weiß, daß in Kurdistan inzwischen die wohl stärkste Frauenbewegung des mittleren Ostens beheimatet ist. Unter der Losung »Wir Frauen sind die Ehre von niemandem – unsere Ehre ist unsere Freiheit« kämpfen kurdische Frauen heute nicht nur für Frieden und die Anerkennung ihrer kurdischen Sprache und Kultur, sondern auch gegen patriarchale Unterdrückung und für ein selbstbestimmtes Leben. Sichtbarster Ausdruck für diesen Aufbruch der kurdischen Frauen ist ihr Erfolg bei der letzten Kommunalwahl im Frühjahr 2009 in Kurdistan. 16 Bürgermeisterinnen wurden gewählt – mehr als in der gesamten übrigen Türkei. Auch der Parlamentsfraktion der prokurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) gehören prozentual deutlich mehr Frauen an als den Fraktionen der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), aber auch der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), die verbal immer wieder für die Rechte der Frauen eintritt.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Frauen von Ehemännern oder Vätern ist ein Hindernis für ihre weitere Emanzipation in den kurdischen Landesteilen. Die Frauenbewegung hat daher die Initiative zum Aufbau von Frauenkooperativen ergriffen, die Frauen sozial, ökonomisch, kulturell und politisch fördern sollen. In Nusaybin, Van, Diyarbakir, Kiziltepe, Urfa, Dogubeyazit und weiteren Kommunen sind bereits solche Kooperativen entstanden. Sie bieten Frauen eine von Männern unabhängige Erwerbstätigkeit und fördern ihre kulturelle Entwicklung durch Selbstorganisation und die Gewährung von Freiräumen außerhalb ihrer Wohnungen und Familien. Einige der Frauenkooperativen bestehen aus Handwerksbetrieben, in denen beispielsweise traditionelle Gewänder gefertigt werden. In anderen Kooperativen befinden sich Bäckereien und Restaurants. Die Organisation ist kollektiv, es gibt Einheitslöhne. Lehrerinnen bieten Bildungskurse an. Die Angebote reichen von Alphabetisierungs- und Computerkursen über Hausarbeits- und Erziehungstips, medizinische Ratschläge bis hin zu Selbstfindungskursen, in denen die Frauen ihre eigene Stellung in der Gesellschaft erkennen und kritisch zu hinterfragen lernen. Auch psychosoziale Hilfe gibt es. Zu einigen Kooperativen gehören Waschhäuser, die besonders von ärmeren Familien für das Reinigen und Reparieren ihrer Wäsche genutzt werden. Angesichts der wirtschaftlichen Unterentwicklung und massiver Arbeitslosigkeit in Kurdistan sind solche Frauenkooperativen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Doch diese Projekte verstehen sich als Modell für ein besseres, freieres Leben. Weitere Kooperativen sind im Gespräch, und die schon bestehenden besitzen große Ausstrahlung auf die Gesellschaft.

Ein besonderes Geschenk zum Internationalen Frauentag machten die von der prokurdischen Linkspartei BDP regierte Kommunalverwaltung und Bürgermeisterin Ayse Gökkan von Nusaybin im Jahre 2010: Sie unterzeichneten ein Abkommen über Frauenrechte und wirtschaftliche Rechte der Frauen in den Kommunalverwaltungen der Gemeinden Kiziltepe, Nusaybin, Mazidagi, Derik und Dargecit. Das Abkommen sieht die Verurteilung von männlichen Kommunalarbeitern vor, die häusliche Gewalt ausüben oder Kopfgeld, das der Bräutigam der Familie der Braut zahlt, annehmen. Im Abkommen heißt es, daß »männliche Arbeiter, die Kopfgeld annehmen, Töchter nicht zur Schule schicken, in Vielehe leben oder in der Familie Gewalt ausüben«, ihres Amtes enthoben werden. Memduh Öztürk von der Gewerkschaft der Kommunalangestellten hofft, »daß das Abkommen einen wichtigen Effekt auf das Ende der Ausgrenzung von Frauen und hinsichtlich ihrer Rechte in der Gesellschaft« haben wird. »Um den vorherrschenden sozialen Problemen in dieser Region, wie Gewalt gegen Frauen und Töchter, die nicht zur Schule geschickt werden, entgegenzuwirken, wollen wir dieses Abkommen umsetzen.« Zahlreiche weitere von der BDP regierte kurdische Kommunen haben inzwischen derartige Beschlüsse gefaßt. Als Strafen für Männer, die ihre Frauen schlagen, ist unter anderem vorgesehen, einen Teil ihres Lohnes direkt an ihre Frauen auszuzahlen. Im Wiederholungsfall kann ein Mann auch seine Stelle bei der Kommune verlieren, dafür wird für die Frau ein eigenes Auskommen gesucht, wie Bürgermeisterin Gökkan uns berichtete.

Die Weichen für die Umsetzung solcher Projekte zur Frauenbefreiung wurden 2009 gelegt. Bei der damaligen Kommunalwahl wurde die inzwischen verbotene prokurdische Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) zur stärksten Kraft in den kurdischen Landesteilen vor der islamisch-konservativen AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Die DTP eroberte damals rund 100 Bürgermeisterämter. Dieser Kommunalwahlsieg war die Voraussetzung für die Umsetzung eines Programms der »demokratischen Autonomie«, wie die kurdische Bewegung ihr Ziel benennt. Nicht mehr ein eigener Staat, wie noch Anfang der 1990er Jahre, oder eine klassische Föderation oder Autonomie ist das Ziel der kurdischen Bewegung, sondern eine weitgehend basisdemokratische Selbstorganisation der kurdischen Kommunen, wobei Frauenrechte beziehungsweise Geschlechtergerechtigkeit sowie Ökologie tragende Säulen der angestrebten Rätedemokratie sind. Doch schon wenige Wochen nach der Kommunalwahl setzte eine beispiellose Verhaftungswelle gegen angebliche Mitglieder der Union der Kommunen Kurdistans (KCK) ein, einem Dachverband der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK. In den letzten eineinhalb Jahren wurden rund 8.000 kurdische Politiker und Aktivisten festgenommen. Etwa 4.000 von ihnen befinden sich noch immer in Untersuchungshaft. Im Schnitt kommt es täglich zu acht Festnahmen kurdischer Aktivisten. Betroffen sind 15 amtierende Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, mehrere ehemalige Bürgermeister, zahlreiche Stadträte und Parteivorstände, aber auch Journalisten und Anwälte, Menschenrechts- und Frauenaktivistinnen sowie Gewerkschafter. Sechs im Juni für die DTP-Nachfolgepartei BDP ins Parlament gewählte Abgeordnete befinden sich weiterhin in Haft. Einem von ihnen, dem von 78.000 Menschen in Diyarbakir direkt gewählten Hatip Dicle, der bereits in den 1990er Jahren aus dem Parlament heraus verhaftet und langjährig inhaftiert wurde, raubte die Regierung sogar sein Abgeordnetenmandat.

Keinem der wegen Unterstützung, Mitgliedschaft oder gar Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung – gemeint ist die KCK beziehungsweise PKK – angeklagten Politiker oder zivilgesellschaftlichen Aktivisten wird eine Gewalttat oder der Besitz einer Waffe vorgeworfen. Vorgeworfen wird ihnen vielmehr der Aufbau rätedemokratischer Selbstverwaltungsstrukturen in den Kommunen, das Eintreten für eine politische Lösung der kurdischen Frage durch Dialog mit allen Beteiligten, ihr Engagement gegen umweltzerstörerische Staudammbauten und der Einsatz für eine Geschlechtergerechtigkeit und eine Frauenquote. Auch Bürgermeisterin Gökkan wird von der türkischen Bürokratie und Justiz mit Anklagen verfolgt, weil sie sich für die Frauenrechte engagiert.

Aufgrund der Massenverhaftungen, die sich nach der Parlamentswahl im Juni 2011, bei der der prokurdische Linksblock 36 Direktmandate eroberte, noch einmal intensiviert haben, sprechen kurdische Politiker von einem »politischen Genozid«. Anfang November machte Erdogan erneut deutlich, daß die Verhaftungen weitergehen werden. Der Aufbau eines Parallelstaates werde nicht geduldet, so Erdogan. Mit Parallelstaat sind offenbar nicht nur neu geschaffene Elemente von Basisdemokratie gemeint, sondern schon die Wahl von Bürgermeistern und Abgeordneten, die nicht der AKP angehören.

Inzwischen wurde die Verhaftungswelle auf türkische Akademiker und Intellektuelle ausgedehnt, die solidarisch mit der kurdischen Bewegung sind. So wurden der Verleger und Menschenrechtsaktivist Ragip Zarakolu und die Universitätsdozentin und Verfassungsrechtlerin Büsra Ersanli verhaftet, weil sie an Parteischulen der BDP unterrichtet hatten. Auch dies wird als PKK-Unterstützung ausgelegt. Zarakolu sollte wenige Wochen später auf Einladung des PEN-Zentrums in Köln zum Thema »Meinungsfreiheit in der Türkei?« sprechen. Die Verhaftung der Verfassungsrechtlerin Ersanli, die die BDP im Verfassungsausschuß des Parlaments vertreten sollte, zeigt, wie wenig ernst die Ankündigung des Ministerpräsidenten Erdogan zu nehmen ist, die kurdische Frage im Parlament zu lösen. Eine Mitsprache der Kurden bei der Ausgestaltung einer neuen Verfassung, die die alte noch von der Militärjunta 1982 eingesetzte Verfassung ersetzen soll, ist von der AKP offensichtlich nicht erwünscht.

Kaum einer der Tausenden Gefangenen wurde bislang verurteilt. In Diyarbakir läuft seit Oktober 2010 ein Schauprozeß gegen 150 kurdische Politiker, darunter ein Dutzend Bürgermeister. Die Angeklagten werden von Militärpolizisten bewacht. Ihnen ist es verboten, sich in ihrer kurdischen Muttersprache zu verteidigen. Die Richter bezeichnen das Kurdische als »unbekannte Sprache«.

Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, die es nach dem Wahlerfolg des prokurdischen Linksblocks bei der Parlamentswahl im Juni gab, hat sich durch die fortgesetzten Massenverhaftungen und eine Intensivierung des Krieges gegen die PKK zerschlagen.

Seit Mitte August fliegt die türkische Luftwaffe wieder verstärkt Luftangriffe auf Ziele im Nordirak. Nicht nur mutmaßliche PKK-Stellungen sind betroffen, sondern auch zivile Infrastruktur. Wie in den 1990er Jahren mußten Bauern aus ihren Dörfern fliehen und in Flüchtlingslager gehen. Im Oktober kam es zu einer großangelegten PKK-Vergeltungsaktion für einen solchen Luftangriff, bei dem mehrere Guerillakommandanten getötet worden waren. Dutzende türkische Soldaten starben, als Hunderte Guerillakämpfer Armeestützpunkte im irakisch-türkischen Grenzgebiet angriffen. Die Rache der Armee war grausam. 35 Guerillas starben durch den Einsatz von international geächteten chemischen Waffen im Kazan-Tal. Den Angriff befehligte der neue türkische Generalstabschef Necdet Özel, der bereits 1999 einen Giftgasangriff auf PKK-Kämpfer zu verantworten hatte.

Der »kurdische Frühling«, der schon lange vor dem »arabischen Frühling« begann, wird auch mit Panzern aus Deutschland niedergewalzt. Doch Bundesregierung und Europäische Union ermutigen dieses Vorgehen durch Waffenlieferungen an die Türkei, eigene Terrorlisten und das PKK-Verbot in Deutschland. Der Hintergrund ist geostrategischer Art. Die Türkei und besonders die kurdischen Landesteile sind eine Energiedrehscheibe für den Westen. Von hier soll die Nabucco-Gaspipeline nach Europa führen, die von russischen Gaslieferungen unabhängig machen soll. Und in der kurdischen Osttürkei wird nun auch eine Komponente des vor allem gegen den Iran, aber auch gegen Rußland gerichteten NATO-Raketenabwehrsystems errichtet. Für die Profite des westlichen Kapitals werden die Menschenrechte der Kurden geopfert.