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Titel2511

Wissenschaftliche Analyse statt Exorzismus  (Heinrich Fink)

Zurückblickend verstehe ich, daß der Empfang anläßlich meiner Investitur zum Rektor der Humboldt-Universität Berlin doch schon eine Art Dienstbesprechung gewesen sein muß; denn als der spanische Botschafter in der DDR, Alonso Álvarez de Toledo, mir gratulierte, versicherte er mir, daß die Complutense-Universität in Madrid sehr daran interessiert sei, ihre jahrelang gute Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität jetzt erst recht fortzusetzen. Seit 1983 verband uns ein Vertrag über wissenschaftliche Zusammenarbeit. Dazu gehörte auch die regelmäßig veranstaltete »El Escorial-Konferenz«.

Der Botschafter wies darauf hin, daß vor vier Wochen zur Stabilisierung dieser bewährten Beziehung ein neuer gemeinsamer Arbeitsplan nicht nur konzipiert, sondern bereits unterzeichnet worden sei. Ich hörte das mit Interesse und versprach, in dieser Sache umgehend aktiv zu werden. Auf Betreiben der Complutense-Universität wurde die Zusammenarbeit auf die Gebiete Soziologie, Politikwissenschaft, Geographie, Geschichte und auf besonderen Wunsch unsererseits auch auf die Judaistik erweitert.

Während eines Aufenthalts des Rektors der Complutense-Universität, Gustavo Villapalos, in Berlin lud der spanische Botschafter zu einem Gespräch ein, in dem wir ausführlich über die neue Situation des noch geteilten Deutschlands im europäischen Kontext diskutierten. Spontan schlug der spanische Kollege vor, umgehend eine Konferenz zwischen Wissenschaftlern beider Universitäten in Berlin zu organisieren. »Quo vadis Germania?« sollte das Thema sein, zu dem ausdrücklich auch Referenten eingeladen werden sollten, die in der DDR als ausgewiesene Wissenschaftler politische Verantwortung getragen hätten. Dabei nannte Villapalos schon den Namen Dieter Klein. Wichtig war ihm, daß außer Lehrenden der Humboldt-Universität auch Vertreter aus Politik, Kultur und Kirche eingeladen würden. Im Akademischen Senat fand dieser Vorschlag Zustimmung. Konzeption und ein konkretes Programm wurden erarbeitet, mit den spanischen Kollegen diskutiert und schließlich gemeinsam beschlossen. Es war die erste internationale wissenschaftliche Konferenz an der Humboldt-Universität in der Wende. Überraschenderweise fragte die Westberliner Senatsverwaltung in der Vorbereitungsphase der Konferenz an, wer denn diese »kostspielige Konferenz« bezahlen würde. Dabei waren wir doch noch unserem Wissenschaftsminister, Hans-Joachim Meyer, gegenüber verantwortlich! Ob man uns im Senat die Antwort glaubte, daß die Spanier die volle Finanzierung übernehmen, konnte ich nicht beurteilen. Jedenfalls freuten wir uns, als der Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, und der Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, für den 27. bis 29. Juli 1990 ihre Teilnahme ankündigen ließen.

Auf ein kritisches Presseecho hatten wir sogar gehofft, aber die schlecht informierte F.A.Z. empörte uns mit ihrer direkten Einmischung: »Streit um ›Quo vadis Germania‹ – Konferenzteilnehmer gegen SED-Ideologen« titelte man am 24. Juli. Dem Artikelschreiber war entgangen, daß es sich um gemeinsam ausgesuchte Referenten handelte, die die Spanier aus bereits siebenjähriger Zusammenarbeit kannten. Sie wollten sich nämlich nicht am westlichen Exorzismus beteiligen, sondern wollten sich – wie einst auch in der spanischen Inquisition unüblich – mit »Lehre und Irrtum« sachlich und fachlich auseinandersetzen. Deshalb hatten die Spanier auch ausdrücklich gebeten, »Bürgerrechtler« aus dem Universitätsumfeld einzuladen: Wolfgang Ullmann, Kirchenhistoriker, in jenen Tagen Vizepräsident der DDR-Volkskammer und Mitbegründer der Partei »Demokratie jetzt« gehörte dazu, die Schriftstellerin Helga Königsdorf, Mathematikerin, war ausdrücklich von den Spaniern als Diskussionspartnerin erbeten worden, ebenso die Sozialministerin Regine Hildebrandt und Victor Grossmann, der als Journalist zugleich sich dem Thema »Spanischer Bürgerkrieg« widmete. Daß diese Gesprächspartner alle zugesagt hatten, interessierte die F.A.Z. nicht. Es ging eindeutig um die Denunziation dessen, was die Humboldt-Universität unter Erneuerungsprozeß verstand und praktizierte.

In der F.A.Z. hieß es: »... Kritiker an der Humboldt-Universität sehen in dem von Fink geplanten Ablauf der Veranstaltung einen Mißbrauch des Gesprächsangebots der spanischen Wissenschaftler, die den Dialog mit deutschen Geisteswissenschaftlern und nicht mit Parteiideologen suchten ... Die marxistisch-leninistischen Ideologen können aber dennoch ihrer internationalen Aufwertung mit Genugtuung entgegensehen. Vorgesehen sind Referate seitens der Humboldt-Universität zu den Themen ›Über Schwierigkeiten mit Einheit und Recht und Freiheit‹ (Niemann); ›Deutsche Einheit und Dritte Welt – neue Anforderungen an die deutsche Politik‹ (Weidemann) und ›Steht wirklich Deutschland im Frühlingsflor?‹ (Heinrich Heine!); Vertane Chancen, offene Wege‹ (Klein).« Dieser Artikel und die Anfrage von der Freien Universität, ob die Humboldt-Universität allen Ernstes ohne Westbeteiligte diese Konferenz mit den Spaniern durchführen wolle, haben uns signalisiert, daß die Würfel auf anderem Tisch doch schon gefallen sind ...

Trotz dieses überraschend deutlichen Vorspiels fand die Konferenz in vertrauensvoller Atmosphäre statt. Die Diskussion war offenherzig, und die Referate der Spanier waren hilfreich – nicht nur in ihrer sachlich-kritischen Demokratieanalyse. Es war uns sogar peinlich, daß der Prorektor der Complutense-Universität in seinem Interview zu Beginn der Konferenz gegenüber dem Neuen Deutschland äußerte: »Ich möchte sagen, daß es hier keinen Mißbrauch des Vertrauens gab, weil in der Vorbereitung der Konferenz eine perfekte Zusammenarbeit bestand. Mit unserem Rektor wurden Titel, Struktur und Inhalt der Konferenz abgesprochen.« Etwa 20 spanische und 30 deutsche Wissenschaftler hörten die Referate und beteiligten sich an den Diskussionen. Mit großer Aufmerksamkeit wurden die aktuell verantwortungstragenden Politiker gehört und befragt, unter ihnen Lothar de Maizière und Franz Bertele von der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.

In meinem Schlußwort zur Tagung sagte ich: »Auch was sich heute als Irrtum erweist, darf nicht nur ›verworfen‹ werden. Wir wollen keinen mittelalterlich-moralischen Strafvollzug im Hause der Wissenschaft betreiben. Wir verurteilen keinen zum Schweigen, nur weil er in anderen Strukturen analysiert, gedacht und gehofft hat. – Es sei denn, er hat anderen vorsätzlich an Leib und Leben geschadet. Die für die nächsten Jahre vereinbarte wissenschaftliche Zusammenarbeit unserer Universitäten fühlt sich auch auf jedem Fach- und Sachgebiet verpflichtet – nicht inquisitorisch, wohl aber unermüdlich – analytisch Fehlerquellen aufdecken zu helfen, durch die Ausbeutung von Menschen durch Menschen gerechtfertigt und die internationale Sicherung von Marktvorteilen über den unbedingten Schutz der global gültigen Menschenrechte gestellt wird.«

Es war keineswegs geplant, aber ein glücklicher Zufall, daß die spanischen Konferenzteilnehmer am 29. Juli 1990 auch an dem Festakt zur Übergabe der Friedrich-Engels-Kaserne an die Humboldt-Universität teilnehmen konnten (s. Ossietzky, Heft 23/11). Mit uns gemeinsam erlebten sie die »Schlüsselübergabe« als einen überzeugenden Akt der Umwidmung eines Militärobjektes zu einem Haus der Wissenschaft in international solidarischer Verantwortung. Leider weiß ich nicht, wie die spanischen Freunde reagiert haben, falls sie es überhaupt je erfahren haben, daß dieses öffentlich besiegelte neue »Eigentumsverhältnis« als kleines Zeichen konkreter Entmilitarisierung leider versehentlich (?) nicht im Einigungsvertrag BRD–DDR aufgeführt worden ist. Die Veranstaltung auf dem Kasernenhof mutierte zur Utopie.

Heinrich Finks Artikelserie über die Wende-Zeit an der Humboldt-Universität, begonnen in Heft 2/11, wird fortgesetzt.