Der Spaziergänger wandert durch Zeiten, geht an Orte, diesmal an die Spree, genauer in die Schumannstraße zum Deutschen Theater (DT). Hier wirkte der Schauspieler und Regisseur Alexander Lang, der vor kurzem 70 Jahre alt geworden ist. Lang absolvierte 1966 die Staatliche Schauspielschule und spielte danach zunächst am Maxim Gorki Theater – gleich frisch und glanzvoll als Don Juan im fast gleichnamigen Stück von Max Frisch. Dann ging es Schlag auf Schlag: Kurzfristig arbeitete am Berliner Ensemble, danach von 1969 bis 1987 am DT, wo er meist unter Adolf Dresen, dessen Platz er später als Regisseur einnahm, unter anderen folgende Rollen spielte: Ferdinand (Schiller), Jonny Boyle (O’Casey, damals zusammen mit Elsa Grube-Deister), Kipper Paul Bauch (Volker Braun), Caliban, Prinz Friedrich von Homburg/Ruprecht (Kleist), 1977 gar den Philoktet von Heiner Müller in der DDR-Erstaufführung. Später inszenierte er vorrangig, beginnend mit einer Ausgrabung des Berliner Volksstücks »Pauline« von Georg Hirschfeld 1976. Einige der späteren Arbeiten waren in Hamburg und München zu sehen. Unlängst konnten wir Alexander Lang wieder als Schauspieler bewundern: groß sein Satin in Maxim Gorkis »Nachtasyl« in einer Inszenierung von Thomas Langhoff. Er war darin die ungebrochene Figur mit Hoffnung und Kraft.
Jüngst erschien ein empfehlenswertes Buch über einen der ganz Großen des deutschen und des Deutschen Theaters, über Wolfgang Langhoff, Intendant des Hauses zwischen 1946 und 1963: »Den Kommunismus mit der Seele suchen« von Esther Slevogt. Es ist gut zu lesen, auch und gerade für mich, der ich jene wichtige Periode des Künstlers und des DT selbst miterlebt und im Henschel-Verlag ein frühes Buch über diesen antifaschistischen Künstler und führenden Kopf des Züricher Schauspielhauses während des Exils herausgebracht habe: »Wolfgang Langhoff – Schauspieler. Regisseur. Intendant« von Christoph Funke und Dieter Kranz. Für uns war das Arbeit am und für das Gegenwartstheater, heute ist es Beschreibung von Theatergeschichte, die, wenn an einer Persönlichkeit vollzogen, sich des Genres der Biographie bedienen kann. So geschehen von dieser Autorin. Esther Slevogt beschreibt Langhoffs Versuche und Mühen wie Leistungen und Erfolge, seine und seiner Zeit Widersprüche. Leider hält sie sich extrem an – selbstverständlich nicht zu verschweigenden – kulturpolitischen Konflikten fest, vor allem am Konflikt über Hacks‘ »Die Sorgen und die Macht« 1962 – als wären solche Auseinandersetzungen nicht das Normale bei großen Künstlern, die ihren Stoff aus den Widersprüchen der Zeit holen, wie es ihre Aufgabe ist. Sie zeigen die Widersprüche, ziehen Folgerungen, und, wenn sie ganz gut sind, geben sie Hoffnung und Zukunft mit, Visionen, Ideale für das Morgen. Das taten Hacks und mit ihm die Bühnenkünstler, mit ihm Langhoff und die andern, das Ensemble. Und die herrschende Ordnung beziehungsweise Unordnung ärgerte sich – wie anders? War das nicht zu allen Zeiten so? Bequeme Kunst ist meist schlecht, affirmative hält sich nicht lang. Da haben andere Systeme noch ganz anders zugeschlagen und mit Tod, Haft oder Verbannung gestraft. Da war doch der – immerhin sehr frühe und unreife – Sozialismus zumindest zu dieser Zeit noch halbwegs freundlich: Die Inszenierung war noch neunmal im Spielplan, der Autor erhielt angemessene Honorare und wurde als bekennender DDR-Autor weltberühmt. Die Darsteller spielten alle weiter, einige wurden groß.
Langhoff hatte es am schwersten getroffen. Der ohnedies kranke Mann – dessen Gesundheit indes weniger durch den kulturpolitischen Ärger als vielmehr durch das KZ ruiniert war – starb 1963. Wer trauerte nicht um ihn? Ich denke dabei vor allem an seine großen Rollen und Inszenierungen. Wer gab je einen besseren Werschinin (»Drei Schwestern«) oder Octavio Piccolomini; sein Thoas ist so unerreicht wie Freiherr Christian Maske (Sternheim). Und etliche Inszenierungen bleiben unvergessen: »König Lear«, »Sturm« von Bill-Belozerkowski mit der Musik von Hanns Eisler und mit ihm selbst und Ernst Busch; köstlich »Minna von Barnhelm« (mit Käthe Reichel, Hans-Peter Minetti), »Iphigenie auf Tauris« (mit Inge Keller), die drei Hacks-Inszenierungen nicht zu vergessen.
Nun, er ruht in einem Ehrengrab, sein Platz in der Theatergeschichte – als Schauspieler, Regisseur und Intendant – ist unbestritten und seine Büste begrüßt uns vor dem DT.
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Unweit meines Schreibtisches hat sich das Ballhaus Ost einquartiert, und das besuche ich gelegentlich, mitunter aus dem Vorbeigehen. Planen kann man schlecht, da das Telefon meist schweigt oder beim bloßen Schellen verbleibt. So sah ich unvermittelt eine »Madame Bovary«-Aufführung, nachdem ich kürzlich erst die Inszenierung im Maxim Gorki Theater besucht und besprochen hatte (s.
Ossietzky 19/11). Die war schon nicht erhebend, und auch hier überforderte der Stoff die Macher. Das lag am wenigsten an Inga Busch, die der Titelfigur allerhand an Kraft gegeben hat, ja sogar eine gewisse Aggressivität. Die Pollesch-Schule ist zu merken. Aber eine Farce ist aus dem durchkomponierten Roman nicht zu machen, ohne das ganze Geflecht zu beschädigen. Die Ursache liegt wie so oft am geschichtslosen Denken von Dramaturgie (Daniela Dröscher) und Regie (Christian Weise). Das nachrevolutionäre, fast schon wieder bonapartistische Frankreich von 1850 ist nicht die neue Kleinbürgerlichkeit von Berlin-Prenzlauer Berg. Was soll ein Fernsehgerät auf der Bühne? Soll es etwa eine revolutionäre Entdeckung darstellen? Das alles ist gar zu grob gestrickt wie platt gemacht und laut und lärmig. Was das Ballhaus Ost bot, war eine Klamotte und wenig professionell, was diese Veranstaltung von der im Maxim Gorki Theater gesehenen unterschied.
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Unsere Kleinbühnen und Freien Gruppen geben sich manchmal recht eigenartige Namen: »Stammzellformation« heißt eine, die in meiner unmittelbaren Nachbarschaft in der Kulturbrauerei auftritt. In ihrer neuen Darbietung geht es um den Tod. Eine junge Frau namens Kara will sich unter einen Zug werfen, der nicht kommt. Dasselbe will am selben Platz eine andere namens Sunny, und um diesen Platz prügeln sie sich. Ein Mann namens Todd oder Tom hindert sie daran, indem er über den Tod singt. Da wollen die beiden in diesem Stück »Der Tod und die Mädchen« doch lieber weiterleben. Ein Thema, aus dem sich etwas hätte machen lassen. Hier wurde daraus eine Art Musical für Anfänger, in dem ständig die Rollen getauscht oder neu geschrieben werden – bis man gar nichts mehr versteht. »Dr. Ich« von 2009 und »Mamma Macchiato« über den Geburtenboom im Prenzlauer Berg waren immerhin noch witzig. Diesmal schaffen es die drei Amateure nicht mal zur Stoffreife. Dunkel blieb der Sinn! Manches war sprachlich nicht zu verstehen, und der Gesang ging im gefuchtelten Gekreisch unter. War das ein Erguß der Stammzellen?
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Durch Zufall entdeckte ich ein Köpenicker Theaterchen, das sich »Zilles Stubentheater« nennt. Sieht auch aus wie eine halbwegs »Gute Stube« alter Art, und wenn Besuch kommt, dürfen es kaum mehr als ein Dutzend Gäste sein. Kleiner geht nicht für ein Theater, und eine Bühne haben sie auch nicht. Hat er nicht, muß es eigentlich heißen. Er ist Albrecht Hoffmann, der wie Zille aussieht oder zurechtgemacht ist, aber nicht zeichnet. Die Texte, die man hier hört, geben alte Berliner Begebenheiten wieder, Redensarten werden erklärt, Witze erzählt, Couplets gesungen (vor allem von Benno Radke), daß sich die Ohren zusammenziehen – es fehlt noch ein Klavier, das die Tonart halten kann. Der Maler Friedrich Damrau hat Berliner Motive gezeichnet und damit die Wände geschmückt. Wer solche Atmosphäre liebt, mag sein Vergnügen daran haben. Mein Fall ist sie nicht, doch in eine Sammlung Berliner Kuriositäten würde ich das »Stubentheater« aufnehmen.
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Will man sogenanntes Freies Theater (was meist frei von Geld bedeutet), kann man an den Hau-Bühnen nicht vorübergehen (Hau 1: Hebbeltheater, Hau 2: Hebbel am Ufer, wo einst die Schaubühne Triumphe feierte, Hau 3: Theater am Ufer). Hier kann man Avantgarde-Theater machen, das heißt mehr oder weniger anarchistisches und das heißt ebenso gutklassiges wie schlimmklassiges. Eine Andcompany aus der Schweiz brachte »Hotel Savoy« in Hau 1, »Arche B.« in Hau 2. »Hotel Savoy« ist nach Motiven von Joseph Roths gleichnamigen Roman gestaltet, »Arche B.« nach dadaistischen Texten, etwa von Kurt Schwitters. Die wabenförmig entworfene und sich ständig verschiebende Szene in »Hotel Savoy« von Dominic Huber kann alles und nichts bedeuten. Man kann es von unten wie von oben aus dem vierten Stock betreten und verlassen – es meint den verlorenen Menschen auf der Erde oder im Kosmos und das etwa Anfang der 1920er Jahre; da gibt es Geldherrschaft von Milliardären (Bloomfield) und Weltrevolution mit Feuer und Asche. Das ist so romantisch wie unverbindlich.
Viel Besseres ist auch von »Arche B.« nicht zu sagen, aber etwas kräftiger und sinnlicher war der Abend doch. Das manchmal sogar Schöne bestand im Spiel von Kindern, die sich als Piraten verkleiden, Segel setzen und in See stechen. Sie suchten neues Land und hatten Spaß daran. Der Spaß übertrug sich aufs Publikum, und da lachten viele Kinder – da war plötzlich Hoffnung.