»Zensur! Dieser Machtmensch!« zeterten sie und meinten Rußlands Präsidenten Wladimir Putin. Der »Kreml-Chef« habe, empörend, ein Gesetz zur behördlichen Sperrung von Internetseiten beschließen lassen. Im Chor der Kritiker: unsere Leitmedien und »Reporter ohne Grenzen«. Zur gleichen Zeit erregten in Moskau, welch Zufall, einige »Oppositionsführer« ausländisches Medieninteresse. Sie ließen sich bei Ordnungswidrigkeiten festnehmen, was westliche »Beobachter« sogleich als Beweis für staatliche Übergriffe und breit angelegte Verletzung der Menschenrechte in Rußland ausgaben.
»Fnord« nennt man dergleichen. Das Kunstwort, das den Duden noch nicht erreicht hat, steht für gezieltes Einspielen von Information und Desinformation seitens der Massenmedien und des Staates, um im großen Stil zu manipulieren und zu konditionieren. Ziel: Machterhalt mittels stimulierter Ängste des hiesigen Wahlvolks vor Störungen seines eigenen Alltags.
Richtig an den deutschen Meldungen war, daß das russische Parlament ein Gesetz zur Kontrolle des Internets verabschiedet hatte, einschließlich Sperrung von Internetseiten, die zum Beispiel zu Ordnungswidrigkeiten aufrufen. Einbezogen sind auch kinderpornografische Seiten oder Portale mit anderen strafbaren Inhalten. Unzutreffend: Das Gesetz knebele die politische Opposition. Es konnte ohnehin am Tag seiner Verabschiedung nicht schon Grundlage für die Festnahmen in Moskau gewesen sein; die waren aufgrund bestehenden Rechts erfolgt, das nicht erlaubte Demonstrationen mit Strafe bedroht. Die antirussische Medienkampagne animierte einen Schwarz-Weiß-Abgleich mit unseren hiesigen Gegebenheiten, sie diente deren Relativierung. Polizeiaufmärsche, Demonstrationsverbote und Festnahmen von Demonstranten sind in Deutschland derart üblich, daß sie Zweifel an unseren demokratischen Normen und Menschenrechten begründen. Man denke nur an rechtswidrige Aktionen wie stundenlanges »Einkesseln« von Demonstranten, Masseninhaftierung in Drahtkäfigen ohne Sanitäreinrichtungen, an Todesfälle unter Gefangenen in Polizeigewahrsam. Nicht Information über Rußland, sondern Ablenkung von Deutschlands Zuständen sowie seinen Plänen für repressive staatliche Überwachung war das Ziel des Fnords.
Umfassende Kontrolle der Internetnutzer wollten schon frühere Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich (CSU) hebt sich von ihnen jedoch durch besonderen Arbeitseifer ab. Grundgesetz hin, Verfassungsgerichtsurteile her, er kämpft für verdachtsunabhängige Datensammelei, für die Vorratsdatenspeicherung. Auch den sogenannten Bundestrojaner will er alsbald einsatzfähig haben. Der soll dazu dienen, die Telekommunikationsanlagen verdächtigter Personen mit Ausspäh-Software zu infizieren. Als die Bundestagsfraktion der Linkspartei kürzlich wissen wollte, was es mit der deutschen Mitarbeit an Überwachungsstandards im »Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen« (ETSI – European Telecommunications Standards Institute) auf sich habe, fiel die Antwort derart umfangreich aus, daß Presse, Funk und Fernsehen sie gleich komplett im Abfallcontainer verschwinden ließen. Das gemeine Volk erfuhr nicht, was vorgeht.
Das ETSI, 1988 eingerichtet, sollte ursprünglich nur helfen, die Telekommunikationstechnik zu standardisieren. Inzwischen standardisiert es auch deren Überwachungsmittel. Eine seiner Abteilungen, das Technical Committee Lawful Interception (TC LI) entwickelt angeblich nur das Instrumentarium für gesetzlich zulässige Eingriffe. Ob das stimmt, ist fraglich, denn etliche europäische Geheimdienste haben ihre Finger im TC LI. Aus Deutschland sind außer Zollkriminalamt (ZKA) und Bundeskriminalamt (BKA), der Bundesnachrichtendienst (BND) sowie wahrscheinlich der Verfassungsschutz mit von der Partie. Nicht zu vergessen: die US-amerikanischen Geheimdienstler.
Das BKA bringt einen absolut gesetzeskonformen »Bundestrojaner«, eine Spionage-Software, die per Mail in private Telekommunikationsanlagen geschmuggelt werden soll, selbstverständlich nicht selbst zustande, wie Felix von Leitner auf seiner Website blog.fefe.de berichtete, ist das Kompetenzzentrum Informationstechnische Überwachung (CC ITÜ) beauftragt, die passende Software austüfteln. Der BND, ebenfalls nicht fachkompetent, überlasse die Abschlußpolitur am Trojaner seiner Ausgliederung, dem Bundesamt für Informationssicherheit (BSI). Jedoch, auch das BSI zertifiziere das polizeistaatliche Handwerkszeug nicht selbst, sondern bemühe dafür ein privates Prüflabor. Das Geflecht von Behörden, politischen Kommissionen und Wirtschaftsunternehmen, das hierzulande an der Überwachung von Telefonen und Computern arbeitet, ist ausgedehnter, undurchsichtiger und unüberschaubarer kaum zu gestalten. Aber: Wir sind Demokratie!
Zu erwähnen wäre noch die Kommission Grundlagen der Überwachungstechnik (KomGÜT). Sie ist dem Unterausschuß Polizeiliche Informations- und Kommunikationsstrategie und -technik (UA IuK) der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) nachgeordnet und hat Neuheiten der Überwachungstechnik auf deren Tauglichkeit für die (Geheim-)Polizei zu überprüfen. Wohlgemerkt, kein parlamentarisches Gremium, sondern eine Einrichtung der Exekutive.
Ende Oktober einigte sich das Bundeskabinett auf einen Gesetzentwurf zum Auskunftszwang über die Datenbestände der Internetanbieter. Dieses Regierungsvorhaben soll laut der Online-Zeitschrift Telepolis (heise.de/tp) ausdrücklich auch dynamische IP-Adressen erfassen, alle, die das Internet per Mobiltelefon beliefern oder nutzen. Die Netzkennungen würden automatisch den Inhabern von Internetanschlüssen zugeordnet und – eklatanter Eingriff ins Fernmeldegeheimnis – die entsprechenden Informationen seien an die Sicherheitsbehörden herauszugeben. Ausdrücklich auch besonders empfindliche Daten wie PIN-Codes und Paßwörter, mit denen Endgeräte oder damit verknüpfte Speichereinrichtungen bisher vor fremden Zugriffen geschützt werden. Telekommunikations-Anbieter hätten die erwünschten Daten »unverzüglich und vollständig« zu übermitteln, jedoch unter Stillschweigen gegenüber ihren Kunden sowie Dritten.
Daß es dem Innenministerium nicht nur um Überwachung der Nutzer, sondern entgegen allen Beteuerungen auch um Kontrolle der Internetinhalte geht, beweist Berlins Mitarbeit an dem holländischen Projekt CleanIT. Offiziell dient es ausschließlich der Terrorismus- beziehungsweise Extremismusbekämpfung. Das Online-Publikation Deutsche Wirtschafts Nachrichten berichtete dagegen Anfang November, CleanIT solle alle Anbieter verpflichten, verdächtige Inhalte den Strafverfolgungsbehörden zu melden. Das hätte den Charakter von unzulässiger Rasterfahndung. Mit Unschuldsmiene erklärte Bundesinnenminister Friedrichs dazu, die deutschen Teilnehmer an der CleanIT-Planung seien nicht befugt, für die Regierung verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Und weiter, unverhohlen: »Filtertechnologien stehen an sich nicht im Widerspruch zu völkerrechtlichen Vereinbarungen und Verträgen, sondern allenfalls eine bestimmte Art und Weise des Einsatzes solcher.« (deutsche-wirtschafts-nachrichten.de) Auch sei ein Klarnamenzwang für Internetnutzer und Website-Betreiber »nicht völkerrechtswidrig«. Klar!
Die Bundesregierung möchte das Internet permanent auf unliebsame, »verdächtige« Inhalte durchsuchen lassen und deren Abnehmer ermitteln können. Wer oder was verdächtig ist, bestimmen Leute wie Friedrich und seine Dienste. Die oberfaulen Eier, die unsere Berliner Postdemokraten da bebrüten, sind zwar noch nicht Gesetz, aber sie bezeugen den Willen zum totalen Überwachungsstaat mit übelster Schnüffeltechnologie.
Rückschluß: Der bundesdeutsche Staat wappnet sich, sozialen Unruhen repressiv vorzubeugen. Unser weitsichtiger Nachbar, die Schweiz, ließ im September seine Armee die Abwehr aufständischer Volksmassen an der Landesgrenze üben. Dem Manöver »Stabilo due« lag das Szenario zugrunde, ein Euro-Absturz bewirke in Europa Revolten und Flüchtlingsströme. Bevor wir uns, von unserer Kommunikationsmafia verblödet, über russische Verhältnisse aufregen, sollten wir vor der eigenen Tür kehren.