»Montis rigide Sparpolitik raubt dem Lande die Zukunft: Ein Jahr lang Desaster! Basta!« rief die Vorsitzende der größten italienischen Gewerkschaft (CGIL) Susanna Camusso am 14. November auf der nationalen Streikkundgebung in Terni, dem Sitz des großen Stahlwerks, heute Thyssen-Krupp, das wie so viele andere Betriebe von Schließung bedroht ist. Es war der erste gemeinsame Streik- und Aktionstag, den der erst 1973 gegründete europäische Gewerkschaftsbund einberufen hatte, bisher gab es nur gemeinsame symbolische Aktionen in Brüssel. Doch im Norden Europas hielten sich die Gewerkschaften zurück – ein »politischer« Streik läßt sie zögern. Massive Antwort kam hingegen von den europäischen »Schweineländern« (PIGS) im Süden: Generalstreiks und landesweite Massenproteste. Bilder der Protestmärsche aus Griechenland und Spanien flimmerten minutenlang auch durch die deutsche Tagesschau. In Italien sind die großen Gewerkschaften jedoch weiterhin gespalten: Die CGIL streikte vier Stunden zusammen mit vielen Basisgruppen »gegen Monti«, die stärker regierungskonformen Gewerkschaften CISL und UIL beschränkten sich auf punktuelle Aktionen.
Dabei gibt es genügend Gründe für einen massives gemeinsames Auftreten. Im Schnitt melden seit einem Jahr circa 1.000 Firmen pro Tag (!) in Italien Insolvenz an. Die Arbeitslosenzahlen sind rapide angestiegen (auf über drei Millionen, das entspricht einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent), und wenn man die sogenannten Nicht-Aktiven dazuzählt, das heißt diejenigen, die gar keine Arbeit mehr suchen oder nur kurzarbeiten, dann sind fast fünf Millionen Menschen in Italien ohne Arbeit und meist auch ohne Einkommen. Denn, man muß es wiederholen, sie werden noch immer nicht von einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung geschützt – es gibt keine Jobcenter, keine funktionierende öffentliche Arbeitsvermittlung, Arbeit findet man, wenn überhaupt, nur über private Beziehungen beziehungsweise den Pfarrer vor Ort. Von »Hartz IV«, Wohn-, Kinder- oder Betreuungsgeld und ähnlichem würden Italiener träumen, wenn sie die deutschen Vater-Staat-Versorgungsstandards kennen würden. Aber nach wie vor wissen europäische Arbeiter nur wenig von ihren unterschiedlichen nationalen Arbeitsumgebungen. In Italien empfindet kaum jemand den Staat als sorgenden Vater, eher als Parasiten, der einem Lebensnotwendiges aus der Tasche zieht: Die reale Einkommensteuerbelastung ist mit über 55 Prozent nämlich die höchste Europas, 80 Prozent der direkten Steuern werden von den abhängig Beschäftigten in die Staatskasse eingebracht. Entsprechend hoch ist die Quote der Steuerflüchtigen, nur wenige Tausend Italiener geben ein Jahreseinkommen von mehr als 150.000 Euro an. Und das bei privaten Vermögen von insgesamt 9.000 Milliarden – einer Summe, die das Viereinhalbfache der Staatsverschuldung ausmacht.
Öffentliche Armut ist – wie immer – komplementär zu privatem Reichtum, der dazu in Italien von jeher höchst ungleich verteilt ist und trotz gegenteiliger Absichtserklärungen der Monti-Regierung bisher nicht zur Linderung der Staatsnot herangezogen wird. Die italienische Regierung streicht massiv die öffentlichen Ausgaben für Schulen, Universitäten, Kultur aller Arten, Gesundheit und Alterssicherung zusammen. Die Durchschnittsrente liegt bei 649 Euro, 52 Prozent aller Rentner haben weniger als 1.000 Euro monatlich. Die Kürzungen laufen unter dem Tarnwort »spending review«, wie überhaupt alle von »Europa« diktierten Maßnahmen englisch benannt und für den Normalbürger weitgehend unverständlich sind: vom »fiscal compact« bis zum »spread«.
Der rigide öffentliche Ausgabenstopp, den Monti den lokalen Instanzen (Gemeinden, Provinzen, Regionen) verordnet hat, hat auch die lokale Wirtschaft lahmgelegt. Längst fällige Arbeiten und Projekte sind ausgesetzt, fehlende Kredite der Banken verschärfen die Situation. Das ließ kürzlich 8.000 Bürgermeister mit Rücktritt von ihren Ämtern drohen. Der private Konsum und der Immobiliensektor zeigen tiefe Einbußen. Sozialer Konfliktstoff ist in Fülle vorhanden.
So gingen landesweit am 14. November neben Arbeitenden und Rentnern vor allem Jugendliche auf die Straße, die zu mehr als 35 Prozent arbeitslos sind. Die Proteste der Schüler, Studenten und Prekären waren oft spontan, vielerorts eskalierte die Spannung vor allem dadurch, daß die Polizei sich nicht zurückhielt, sondern brutal zuschlug. Nicht nur im Regierungszentrum Roms kam es zu schweren Ausschreitungen seitens der Polizei, die offenbar eine einschüchternde Wirkung haben sollen. Denn die Proteste nehmen angesichts der von immer mehr Menschen als immer aussichtsloser empfundenen Situation zu, es vergeht kaum eine Woche ohne Streiks oder Kundgebungen. Aber sie sollen – so die Herrschenden – keine politischen Folgen haben.
Die Lage ist fatal: Die rigiden Sparmaßnahmen der Monti-Regierung bauen das hohe Staatsdefizit nicht ab, sondern lassen es durch den hohen Zinsendienst (jährlich circa 60 bis 80 Milliarden Euro) auf demnächst 2.000 Milliarden Euro ansteigen. Ein in Aussicht gestelltes »Wachstum« ist auch in weiter Ferne nicht zu erkennen, die Zahlen aus Europa prognostizieren Rezession bis auf weiteres. Eine gegensteuernde staatliche Wirtschaftspolitik gibt es nicht. Italien riskiert gerade seine Position als zweitgrößter Stahlproduzent Europas, denn das größte Stahlwerk Europas, ILVA in Taranto/Apulien, mit 11.500 Arbeitsplätzen steht aufgrund eines Gerichtsbeschlusses im langjährigen Konflikt zwischen Produktionsbedingungen und Umweltbelastung vor dem Aus. Wenn dort nicht umgehend gegengesteuert und saniert wird, steht die gesamte Industriebasis des Landes auf dem Spiel.
Die Probleme, vor denen Italien heute steht, sind immens. Wichtige Verfassungsprinzipien der repräsentativen Demokratie sind de facto außer Kraft gesetzt. Neuwahlen stehen im Frühjahr an, noch sind sowohl das Wahlgesetz als auch die Parteienkonstellationen unsicher: Die Rechte (Berlusconis PdL) ist in Auflösung, die Demokratische Partei (PD, mehr Mitte als links) positioniert sich gerade in Primärwahlen und liegt in allen Meinungsumfragen vorn. Doch Montis wie Merkels Botschaften sagen kommenden Regierungen deutlich, daß die ökonomischen Auflagen unumstößlich sind. Falls Not am Mann ist, steht der »Experte« Monti weiterhin zur Verfügung – die Demokratie wird zum »Optional«.
Aus dem Süden Europas auf die Krise blickend sieht man deutlicher als im Norden, daß der Begriff »Europa« immer offener seinen rein rhetorischen Charakter zeigt.
Im Wirtschaftsteil ist da exakter die Rede von Eurozone oder Euroland, in dem ein offener Machtkampf zwischen Nord und Süd geführt wird, wobei die gegenseitige Abhängigkeit augenfällig ist. Die von Brüssel verlangte Austeritätspolitik bietet keinen Ausweg. Erst wenn die Lohn- und Sozialkosten auf asiatisches Niveau gedrückt werden könnten, wäre ein »deutsches Europa« vielleicht global wettbewerbsfähig. Feine Aussichten.