Portugal war längst Teil der Europäischen Gemeinschaft (Beitritt 1986), als ich mit einem Flug aus Brasilien in Lissabon eintrudelte. Paßkontrolle. Vor dem Schalter »Internationale Ankunft« bildete sich eine lange Warteschlange, vorm Schalter »Bürger der EG« standen nur drei oder vier Leute. Da rief ein Beamter: »Portugiesen sind ebenfalls Bürger der Europäischen Gemeinschaft.« Und flugs war die Hälfte der langen Schlange am EG-Schalter.
Wohl kaum einer der EU-Mitgliedstaaten fühlt sich so wenig »europäisch« wie Portugal. Im Gespräch hörte ich häufig »ich fahre nach Europa« oder »er jobbt in Europa« – gemeint war »nach Paris« oder »in Deutschland«. Die tief verwurzelte Hemmung gegenüber dem unheimlichen Überstaat entspringt nicht nur der alten portugiesischen Orientierung nach dem »além-mar«, dem »Jenseits des Meeres«, sondern historisch bedingtem Argwohn, der instinktsicheren Skepsis gegenüber allem Ungebetenen, gegenüber Karthagern, Römern, den Vandalen, Mauren, Briten, Napoleon – und Angela Merkel, die den Portugiesen am 12. November ungefragt zugemutet wurde. Selbst mit den iberischen Nachbarn steht man Rücken zu Rücken. Denn von Spanien kommt nach einem alten Reim »nem bom vento, nem bom casamento« – weder guter Wind noch gute Einheirat.
Umgekehrt ist nach portugiesischem Empfinden die landläufige europäische Wahrnehmung Portugals etwa diejenige »mythischer Gefilde in einem leeren, abstrakten Raum« (S. Daveau), von denen man trotz EU-Einbindung kaum mehr weiß als Reiseprospekte vermitteln (auch Merkel plapperte gleich von Ferienplänen). Schon Thomas Manns Lissabon (in »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«) belegt die banale Perzeption. Noch weniger förderlich sind die Umtriebe des portugiesischen Eurokraten José Manuel Durão Barroso. Als opportunistischer Sozialdemokrat, Atlantiker, Kriegstreiber und somit wiedergewählter Vorsitzender der Europäischen Kommission, ist er »eine Blume«, wie man im Portugiesischen sagt, »an der man nicht riecht«.
Ein Blick auf die jüngere Geschichte einer kleinen, arbeitsamen und beharrlichen Nation scheint angeraten, die an der Europäischen Union krankt wie so manch andere und die ironischerweise dem fragwürdigen EU-Vertrag den Namen ihrer Hauptstadt überlassen mußte:
Sie beginnt 1910 – kaum 20 Prozent der Bevölkerung sind lesekundig – mit der Revolution gegen die Monarchie und der Ausrufung der von Anbeginn turbulenten Ersten Republik. Im Ersten Weltkrieg auf englischer Seite, liefert sie ihre Wirtschaft Britannien aus und reibt sich in raschen Regierungswechseln, Machtkämpfen und Revolten auf. Portugal erlebt ein ideologisches Panoptikum, vom schärfsten Antiklerikalismus bis hin zur monarchistischen Reaktion, darunter auch erste Versuche einer Sozialgesetzgebung und die Gründung der Kommunistischen Partei Portugals (PCP, 1919). Keine der republikanischen Minderheitsregierungen schaffte es, republikanische Kontinuität zu strukturieren und zu verankern. 1926, nach 45 Regierungswechseln, übernahm das Militär die Macht.
António de Oliveira Salazar, Finanzminister und Vordenker der Militärdiktatur, formte diese zum Estado Novo um, zum Neuen Staat. Ein Einparteien- und Ständestaat nach Mussolinis Muster, den er 36 lange Jahre (1932–1968) absolutistisch dirigierte. Antikommunismus und Repression nebst Ausbeutung der Kolonien garantierten die westlicherseits wohlgelittene »Kontinuität« Salazars und damit die Morde der Geheimpolizei, das Todeslager auf den Kapverden, die Mitbegründung der NATO und Zusammenarbeit mit der Organisation Gladio.
Der britische Historiker Tony Judt faßt zusammen: »Der durchschnittliche Lebensstandard in Salazars Portugal war eher für das kontemporäre Afrika als für das kontinentale Europa charakteristisch: Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug 1960 nur 160 Dollar (219 Dollar in der Türkei oder 1453 Dollar in den USA). Dafür waren die Reichen wirklich reich, starben die Säuglinge häufiger als in jedem anderen Land Europas, und waren 32 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Salazar ... war nicht nur völlig ungerührt von Portugals Rückständigkeit, sondern sah in ihr auch einen Schlüssel zur Stabilität« (Wikipedia: »Estado Novo«).
Nachfolger Marcelo Gaetano setzte Salazars absurde Kolonialkriege fort, bis am 25. April 1974 junge, linksgerichtete Soldaten und Offiziere dem anachronistischen Irrsinn ein Ende machten. Mit Wandzeitungen statt Kugeln, in den Gewehrläufen rote Nelken statt Patronen – die »Nelkenrevolution«. Ich erinnere mich an ein blendend lichtes, lächelndes Lissabon, die Straßen und Plätze mit Flugblättern übersät. Portugal war aus dem Mittelalter entlassen. Landreform, Verstaatlichung der Banken und Versicherungen, der wichtigsten Betriebe und Medien, Unabhängigkeit der Kolonien. Die Verfassung von 1976 verbriefte den Willen zum Sozialismus. Die Bourgeoisie stellte sich neu auf: 1985 gewinnt die Sozialdemokratie die Wahlen und betreibt die neoliberale Privatisierung. 1999 kommt der Euro, und 2002 ist der Bilderberger José Manuel Barroso Regierungschef – Merkels Darling, der während der Nelkenrevolution noch flink Möbel der juristischen Fakultät geklaut hatte.
Am 12. November empfing der sozialdemokratische Regierungschef Pedro Passos Coelho die deutsche Kollegin auf dem Fort São Julião da Barra, dem »Schild des Reiches«. Man genoß den weiten Blick über den Tejo aufs Meer und parlierte mit dem Rücken zur Plebs. Passos Coelho, heißt es, habe fürs Volk eh wenig übrig. Hat er Merkel das endlose Leid der Portugiesen auch nur angedeutet? Oder war’s ihm so schnuppe wie ihr? Dabei hatte Merkel auch ihn düpiert. Wie im Oktober in Athen (und 1976 bei Robert Havemanns Berliner Hausarrest) gab sie höchst selbst den Aufseher statt irgendeinen Staatssekretär die Arbeitslosenrate (15 Prozent), das verminderte Grundschul- und Gesundheitsbudget und sonstige Verbrechen am portugiesischen Volk abhaken zu lassen. Die vom merkelschen Ego provozierte Vehemenz der Demonstrationen (und Polizeiübergriffe) blieb nun an Passos Coelho hängen. Ebenso das verletzend tumbe Berliner Verbot des sympathischen, portugiesischen Begrüßungsvideos »Ich bin ein Berliner« (Marcelo Rebelo und Moita de Deus, www.youtube.com).
Was der Premierminister ihr aber sicherlich so wenig mitteilte wie uns die gleichgeschalteten Medien: Als zwei Tage vor Merkels Besuch etwa 10.000 Militärs schweigend und in Zivil gegen die Austeritätsexzesse demonstrierten, erklang aus den Lautsprechern ein symbolschweres Lied: »Grândola, Vila Morena«. Es ging in der Nacht vor der Nelkenrevolution über einen Sender: das vereinbarte Zeichen der Soldaten zum landesweiten Losschlagen.