Ein gutes halbes Jahr ist es her, daß die Franzosen ihren neuen Präsidenten gewählt haben. François Hollande hatte sich im Wahlkampf als Gegenmodell zum machthungrigen, von Eitelkeit und Megalomanie geprägten Sarkozy präsentiert und war vor allem deshalb gewählt worden. So war er denn auch bestrebt, als ›normaler‹ Präsident aufzutreten und einige besonders unbeliebte Maßnahmen der Sarkozy-Ära zurückzunehmen. Entscheidungsfreude war von diesem Präsidenten nicht zu erwarten, und eine innen- wie außenpolitische Linie war bis jetzt die eines »ni-ni«, also eines »Weder-Noch«. Lange konnte das nicht gut gehen. Zwar ist die Opposition seit der verlorenen Wahl vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu zerlegen, aber dafür melden sich die Unternehmerverbände zu Wort. Die steigende Arbeitslosigkeit ist ein willkommener Anlaß, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs vor allem gegenüber dem großen Vorbild Deutschland zu kritisieren. Die 35-Stunden-Woche, welche von den Sozialisten Ende der 1990er Jahre eingeführt worden war, stand schon unter Sarkozy unter Dauerbeschuß. Auf die Frage nach einer eventuellen Rückkehr zur 39-Stunden-Woche antwortete Premierminister Ayrault allzu spontan: »Nichts ist tabu.« Erst nach Protesten der Gewerkschaften und Nachfragen des Arbeitgeberverbandes erklärte er, daß die 35-Stunden-Woche nicht die Ursache der gegenwärtigen Probleme sei. Zu allem Überfluß zog nun auch die kapitalistische Inquisition in Gestalt der Rating-Agenturen die Daumenschrauben an.
Die Regierung sitzt in der Wettbewerbsfalle. Da sie die Dominanz der deutschen Marktfetischisten nicht in Frage stellt, sucht sie verzweifelt nach einem dritten Weg, um das Rennen zwischen dem deutschen Igel und dem französischen Hasen zu gewinnen. Der französische Peter Hartz heißt Louis Gallois. Der ehemalige EADS-Chef wurde von der neuen Regierung beauftragt, Reformvorschläge auszuarbeiten. Sie erinnern an die Maßnahmen der Schröder-Regierung: massive Senkung der Lohnnebenkosten, Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie der Sozialabgaben, Einführung einer Ökosteuer und die Förderung von einheimischem Schiefergas. Die Vorschläge wurden zuerst geheimgehalten, dann veröffentlicht und verhalten kritisiert. Nun hat man sie etwas modifiziert: Die Unternehmen erhalten Steuererleichterungen von 20 Milliarden Euro. Die Mehrwertsteuer soll von 19,6 auf 20 Prozent erhöht werden, auch eine Ökosteuer soll kommen, zehn Milliarden sollen durch Einsparungen im Haushalt aufgebracht werden.
Auf dem Parteitag der Parti socialiste (PS) in Toulouse Ende Oktober wurde Harlem Désir zum neuen Chef gewählt. Ein Kompromißkandidat, der die diversen Flügel der Partei zusammenhalten soll. Denn im Gegensatz zu den deutschen Sozialdemokraten herrscht in der PS eine typisch französische Streitkultur. Auch wenn Sigmar Gabriel in passablem Französisch die siegreichen Kollegen lobte, war der Kongreß der Sozialisten eher ein Pfeifen im Walde. Man sprach sich gegenseitig Mut zu und hörte auf die Nuancen in den Reden der Repräsentanten der diversen ›courants‹ (Strömungen) der Partei. Das Beschwören der Geschlossenheit kommt nicht von ungefähr. Die Parteilinke sieht sich in der Regierung schlecht repräsentiert, man fürchtet jene Technokraten, die vor der Diktatur der Märkte kapitulieren.
In einigen Regionen macht man sich über die neue sozialistische Regierung kaum noch Illusionen. Das Prestigeprojekt des einstigen Bürgermeisters von Nantes und heutigen Premierministers Jean-Marc Ayrault, der Bau eines neuen Großflughafens im nordwestfranzösischen Notre-Dame-des-Landes, entwickelt sich immer mehr zu einem neuen Larzac. Die von Enteignung bedrohten Bauern solidarisieren sich mit den Besetzern des Baugeländes, in ganz Frankreich gründen sich Unterstützerkomitees. Massive Polizeieinsätze gegen Besetzer und Unterstützer passen nicht zum Image einer Partei, die sich immer noch als links definiert.
Innenminister Manuel Valls, der dem rechten Sozialistenflügel zugehört und erst seit 1982 die französische Staatsbürgerschaft hat, war sich nicht zu schade, eine französische Staatsbürgerin an seine frühere Heimat Spanien auszuliefern. Die 33jährige Aurore Martin, Mitglied der in Frankreich legalen Baskischen Partei Batasuna, wird von der spanischen Justiz beschuldigt, im spanischen Baskenland zwischen 2006 und 2009 an Kundgebungen der in Spanien verbotenen Schwesterorganisation Batasuna teilgenommen zu haben. Schon im Juni 2011 hatte die Polizei in Bayonne unter dem rechten Innenminister Claude Guéant versucht, die Politikerin zu verhaften. 2000 Menschen, darunter zahlreiche Lokalpolitiker, hatten dies verhindern können. Am 1. November 2012 wurde Aurore Martin nun bei einer ›normalen Verkehrskontrolle‹ verhaftet und umgehend nach Spanien ausgeliefert. Grundlage für den europäischen Haftbefehl ist der berüchtigte Artikel 576 des spanischen Strafgesetzbuchs, der von der UNO-Menschenrechtskommission scharf kritisiert worden war. Für Aurore Martin bedeutet das bis zu zwölf Jahre Gefängnis. Aurore heißt übrigens Morgenröte.