Der Jurist und Justizkritiker Ralph Dobrawa hat ein Buch mit dem Titel »Der Auschwitzprozeß. Ein Lehrstück deutscher Geschichte« vorgelegt. Es ist ein notwendiges Lehrstück. Denn solange es hierzulande üblich ist, die DDR mit dem Nazireich gleichzusetzen, bleibt die Kenntnis der Schrecken des NS-Regimes eine notwendige Grundlage für die aktuelle politische Auseinandersetzung. Die Verleumdung der DDR dient der Diskreditierung des Sozialismus überhaupt – gerade in Zeiten der immer bedrohlicher werdenden Krise des Kapitalismus. Im Bewußtsein der Krisenopfer muß der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus ausgetilgt werden. Das geschieht in Konzernzeitungen und Fernsehsendungen, subventionierten Filmen und geschichtsklitternden Ausstellungen – alles im Sinne eines ehemaligen Chefs des Bundesnachrichtendienstes, Klaus Kinkel, der sich 1991 als Bundesjustizminister nicht scheute, auf einem Juristenkongreß die Parole auszugeben, jetzt gelte es, »Auschwitz und Bautzen« aufzuarbeiten. Dobrawa merkt an, daß im KZ Auschwitz mehr als eine Million Menschen ermordet wurden, in der DDR-Haftanstalt Bautzen niemand.
Dobrawa berichtet – auch für Nicht-Juristen verständlich – über Vorgeschichte und Verlauf des Prozesses. Er kann sich dabei auf die persönlichen Eindrücke von Friedrich Karl Kaul stützen, die eine Vorstellung von der Atmosphäre im Gerichtssaal geben. Kaul, der die Nebenkläger aus der DDR vertrat, schreibt unter anderem: »Zunächst werden die Personalien der Angeklagten festgestellt. So ist zum Beispiel Mulka heute Exportkaufmann, Höcker jetzt Sparkassendirektor, Stark zur Zeit Agronom-Assessor, Lucas wieder Gynäkologe und Schatz simpler Zahnarzt. Sie alle sind jedenfalls im Laufe der vergangenen 20 Jahre Wohlstandsbürger der pluralistischen Konsumgesellschaft geworden.« Ein Zeuge, Johann Tümmler, Doktor der Rechtswissenschaft, wird vernommen. Er war Kommandeur von Polizei, SD und Gestapo in Katowice und damit Vorsitzender des Polizeigerichts in Auschwitz. Kaul notiert: »Beim besten Willen kann er sich an nichts mehr erinnern« und: »Was will man überhaupt von ihm? Nie hat man in Westdeutschland daran gedacht, ein Verfahren gegen ihn einzuleiten. Nie wurde er angeklagt; nie verurteilt.«
Kaul erklärte in seinem Plädoyer: »Die hier strafrechtlich zu wertenden Handlungen der Angeklagten verstoßen gegen Völkerrechtsverbote, die zur Tatzeit existierten«, entsprechend dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg (Artikel 6). »Die Anwendung dieser Normen für die strafrechtliche Bewertung der Handlungsweise der Angeklagten ist für das Schwurgericht zwingend.« Kaul folgte damit der Rechtsauffassung der Gerichte der DDR in den Verfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher.
Für die Verteidiger der Angeklagten stand die Unschuld ihrer Mandanten fest. Sie stellten die Nazi-Diktatur so dar, als hätte Hitlers Befehl zur »Endlösung der Judenfrage« Recht gesetzt wie in einem Rechtsstaat ein vom Parlament beschlossenes Gesetz. Die Angeklagten hätten den Befehl befolgen müssen. Die ihnen angelasteten Massenmorde seien zur Tatzeit nicht strafbar gewesen. Die von der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage verlangte Sühne der Verbrechen verstoße daher gegen das Prinzip »nulla poena sine lege« (keine Strafe ohne Gesetz). Diese Argumentation der Verteidiger, kennzeichnend für die »Bewältigung« der Nazi-Vergangenheit in der BRD, konnte sich auf den führenden Kommentator des Grundgesetzes, Theodor Maunz (s. Ossietzky 18/13), berufen (der übrigens auch Autor der tiefbraunen Deutschen National-Zeitung war). Folgerichtig beantragten die Verteidiger für die KZ-Mörder Freispruch.
Das Landgericht folgte den Anträgen der Verteidiger bei drei Angeklagten, 17 wurden verurteilt, davon sechs zu lebenslangem Zuchthaus und die übrigen zu Freiheitsstrafen zwischen drei und 14 Jahren. Es führte in den Urteilsgründen aus: Bei der Feststellung der individuellen Beteiligung der Angeklagten an den in dem Konzentrationslager Auschwitz begangenen Mordtaten habe es sich vor außerordentlich schwierige Aufgaben gestellt gesehen. »Die Angeklagten selbst trugen zur Aufklärung nur sehr wenig bei. Soweit sie eine Beteiligung zugaben, schwächten sie diese ab, stellten sie verzerrt dar oder hatten stets eine Reihe von Ausreden zur Hand.« Bei seiner rechtlichen Wertung folgte das Gericht nicht Kauls Hinweisen auf das Völkerrecht, sondern maß die beispiellosen faschistischen Untaten an den Maßstäben des wilhelminischen Strafrechts. Als Haupttäter benannte es Hitler und Himmler und einige Personen aus dem engsten Führungskreis wie Göring, Heydrich und andere, die die »Endlösung der Judenfrage« geplant, die organisatorischen Voraussetzungen hierfür geschaffen und ihre Durchführung angeordnet hätten.
Das Landgericht hatte sodann zu entscheiden, ob die Angeklagten Mittäter oder nur Gehilfen waren. Im Falle Mulka beispielsweise führte es dazu aus, entscheidend komme es »auf seine Willensrichtung, auf seine innere Einstellung und Haltung zu den Taten, die er gefördert hat, im Zeitpunkt der Taten an. Denn Mittäter ist derjenige, der die Tat als eigene, Gehilfe derjenige, der die Tat eines anderen unterstützen, sie also als fremde will. Die Willensrichtung des Angeklagten Mulka zur Zeit der Taten kann, da er selbst keinen Aufschluß hierüber gegeben hat, nur anhand von äußeren Umständen, die von seiner Vorstellung erfaßt waren, aus seinem Verhalten bei den Vernichtungsaktionen, seinen Äußerungen und seinem sonstigen Verhalten, aus denen Schlüsse auf seine innere Einstellung gezogen werden können, ermittelt werden.«
Nach dem Grundsatz »in dubio pro reo« (im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten) konnten so Angeklagte nicht oder nur geringfügig bestraft werden. Der Nachfolgestaat des Dritten Reiches begünstigte auf juristische Weise Naziverbrecher. Gegenüber Kommunisten verfuhr die BRD rücksichtsloser.
Immer wieder begegnete Kaul, wie aus seinen Notizen deutlich wird, dem Geist der unbewältigten Nazivergangenheit. Da andererseits im Prozeß die Unmenschlichkeit der Tötungsmaschine nicht zu verbergen war, beeindruckt dieser Ungeist um so mehr. Der Auschwitzprozeß hat ihm kein Ende gesetzt. Die immer gebieterischer auftretende Totalitarismustheorie verschleiert die Einmaligkeit der Nazi-Verbrechen durch die Gleichsetzung der Naziherrschaft mit der DDR. So behauptete Wilfried Bottke, Professor für Strafrecht, 1993: »Gesetzliches Unrecht waren Normen, die die ›Rassenschande‹ unter dem NS-Unrechtsregime oder die staatfeindliche Hetze und die Republikflucht unter dem DDR-Unrechtsregime unter Strafe stellten.« Der Historiker Jörg Friedrich verkündete 1995 in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg: Die »DDR war ein KZ und die Grenzsoldaten lebende Schießautomaten und SS-Schützen.« Eckhard Jesse, Politologe und Professor an der Technischen Universität Chemnitz meinte 1992: »Die Parallelen zwischen beiden deutschen Diktaturen liegen auf der Hand ... Die Verbrechen im Dritten Reich richteten sich in erster Linie gegen andere Völker, die in der DDR gegen die eigene Bevölkerung, deren Freiheit die politische Führung in den unterschiedlichsten Varianten beschnitt.” Martin Kriele, Professor für öffentliches Recht, vertrat die Auffassung: »Jedenfalls gibt es keinen Grund, die DDR-Verbrecher nach anderen Prinzipien zu behandeln als die Nazi-Verbrecher. Es gibt zwar allerlei trübe – und zum Teil auch respektable – Motive, mit Mördern und Folterern aus der DDR anders zu verfahren als mit solchen aus der Nazizeit, aber es gibt keinen sachlich rechtfertigenden Grund dafür.« Horst Möller, Professor für Geschichte, schrieb 1994 unter dem bezeichnenden Titel »Die Geschichte des Nationalsozialismus und der DDR: ein (un)möglicher Vergleich?«: »Die NS-Diktatur hat etwas mehr als eine halbe Million Menschen ins Exil getrieben – zweifellos eine Menschenrechtsverletzung extremen Ausmaßes. Aus vergleichbaren Motiven der Verfolgung haben in den Jahren von 1949 bis 1961 fast 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen und sind geflüchtet.« Jeder dieser ebenso dummen wie dreisten Vergleiche läuft auf Verharmlosung der Nazi-Verbrechen hinaus, und sie werden noch heute weiterverbreitet – 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozeß.
Ralph Dobrawa: »Der Auschwitzprozeß. Ein Lehrstück deutscher Geschichte«, Das Neue Berlin, 256 Seiten, 16,99 €