Ein Wortungetüm macht seit Beginn des Jahres 2013 Karriere: »Reichsdeputationshauptschluß« (RDHS). Es wurde von der breiten Öffentlichkeit erstmals durch die Bundestagsdebatte am 28. Februar wahrgenommen, in der die Linkspartei einen Gesetzentwurf zur »Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen« vorstellte. Die kirchlichen Presseagenturen nahmen sich bald dieses Wortes an und brachten dazu Erklärungen heraus, die Eingang in die übrige Medienwelt und in Talkshows fanden. Bei epd heißt es: »Derzeit erhalten die Kirchen rund 450 Millionen Euro jährlich vom Staat. Die Staatsleistungen gehen auf die Enteignung und Säkularisation kirchlicher Güter durch den sogenannten RDHS von 1803 zurück. Die Landesherren verpflichteten sich damals, für die Besoldung kirchlicher Würdenträger aufzukommen. Dies gilt bis heute, wenn auch seit der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 durch ihren Artikel 138, der in das Grundgesetz mit Artikel 140 aufgenommen wurde, eine Ablösung möglich ist.« Des weiteren konnte man erfahren, daß diese »Staatsleistungen« neben den vom Staat eingetriebenen Kirchensteuern (2012: etwa zehn Milliarden Euro) und den zahlreichen sonstigen stattlichen Zuwendungen des Staates an die Kirchen (für Militärseelsorge, Religionsunterricht, Konfessionsschulen und so weiter) die dritte Finanzquelle für die Kirchen darstellen, die unkontrolliert und undurchsichtig bis heute sprudelt und zum Beispiel für die Gehälter der Bischöfe und deren Pensionen aufkommt. »Keine Frage: Die Staatsleistungen sind vollkommen rechtens«, hieß es dazu in einem Leitartikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, und in der Bundestagsdebatte war es für alle Fraktionen selbstverständlich: Die Zahlungen an die Kirchen bestehen zu Recht als Entschädigung für Enteignungen, die 200 Jahre zurückliegen.
Wer nun allerdings die 89 Paragraphen des RDHS, des letzten großen Gesetzes des Ersten Deutschen Reiches, durchliest, stellt fest: Eine Verpflichtung des Staates, für die Besoldung der kirchlichen Würdenträger bis zum heutigen Tage aufzukommen, sucht man darin vergeblich. Im Gegenteil: Im § 50 wird festgelegt: Für die »sämmtlichen abtretenden geistlichen Regenten« ist eine »angemessene« Unterkunft bereitzustellen, für die »Fürstbischöfe und Fürstäbte des ersten Ranges« zusätzlich noch »ein Sommeraufenthalt anzuweisen«, und zwar ausdrücklich »lebenslang«. Dazu kommen laut § 51 Unterhaltszahlungen als »Sustentation der geistlichen Regenten«, dem Range der Empfänger nach gestaffelt – Pech für deren Nachfolger, die nicht bedacht werden.
Nur eine bleibende Verpflichtung des Staates gegenüber den Kirchen finden wir im Dschungel des RDHS, im § 35: Dort wird in der Tat die »feste und bleibende Ausstattung der Domkirchen« als Pflichtleistung des Staates festgeschrieben. Das war‘s dann aber auch. Mit 460 Millionen Euro im Jahr und bei geschätzten Zuwendungen in Höhe von etlichen Milliarden Euro in den zurückliegenden 200 Jahren (kein Mensch weiß genau, wieviel Geld geflossen ist) dürfte der Staat seine Schuldigkeit mehr als genug erbracht haben.
Als Enteignung der kirchlichen Güter wurde die Säkularisation zu ihrer Zeit wohl kaum verstanden. Nach der damaligen Rechtsform, dem »Dominium eminens«, war und blieb der Staat als oberster Lehnsherr Eigentümer der Reichslehen, die er geistlichen oder weltlichen Landesfürsten als Lehen überließ und die er sich »ohne Entschädigung, etwa in Fällen höchster Not oder in einer Zwangssituation, wieder zueignen konnte«, läßt Meyers Konversationslexikon in der Fassung von 1907 unter dem Stichwort »Säkularisation« wissen. Diese (fast) entschädigungslose Übernahme geistlicher Ländereien durch die Fürsten 1803, die ihre linksrheinischen Gebiete nach den Siegen der französischen Truppen 1801 an Frankreich abtreten mußten und dafür sich rechtsrheinisch Entschädigung suchen sollten, entsprach durchaus den Vorstellungen und den Wünschen auch des deutschen Bürgertums, das damals von dem Geist der Aufklärung erfüllt war und die Kirchen wegen des Prunklebens ihrer Geistlichen verachtete. Johann Wolfgang von Goethe, der »alte Heide«, der lebenslang die »hohe, reich dotierte Geistlichkeit« angriff, die »nichts mehr als die Aufklärung der unteren Masse fürchtet« (Johann Peter Eckermann), drückte in Faust I (1797) das aus, was das Bürgertum empfand: »Die Kirche hat einen guten Magen. Hat ganze Länder aufgefressen Und doch noch nie sich übergessen.« Diese aufgeklärte, liberale und kirchenkritische Sicht »der gebildeten Stände« formulierte der Brockhaus um 1820 in bezug auf den RDHS folgendermaßen: »Die Säkularisation enthält, aus rechtlichem Gesichtspunkt betrachtet, durchaus nichts Ungerechtes, da die geistlichen Regenten nicht durch den Willen der von ihnen regierten Völker, sondern durch bloße Anmaßung zu ihrer Herrschaft gelanget waren, mithin kein wohlerworbenes Recht ... hatten.« Doch diese Sicht sollte sich bald ändern, so wie sich die politischen Zustände nach 1815 geändert hatten:
Frankreich war besiegt, die »Restauration« der vorrevolutionären Zustände griff um sich und sollte europaweit mit Hilfe der »Heiligen Allianz« auf der Grundlage eines wieder erstarkten reaktionären Christentums durchgesetzt werden, das wieder mit Privilegien ausgestattet wurde. Der Altar stützte stärker als je zuvor den Thron, und von seiten der Kirchen wurde nun »ein grundsätzlicher Rechtsanspruch auf Staatsleistungen unter Berufung auf den RDHS behauptet« (in: »Die Religion in Geschichte und Gegenwart«, 1961). Und diese Behauptung wurde bald als geschichtliche Tatsache genommen, »ein bemerkenswerter Erfolg des kirchlichen Lobbyismus und seiner Staatskirchenrechtler im 19. Jahrhundert« (Carsten Frerk), – man könnte vielleicht sogar von Geschichtsfälschung sprechen.
Ob es demnächst zu einer »Ablösung« der »Staatsleistungen« kommen wird, ist ungewiß. Man wird sich streiten, ob eine Rechtsgrundlage für diese Staatsleistungen nach dem RDHS überhaupt gegeben war. Nichts spricht, wie dargestellt, für eine solche Rechtsgrundlage, und dem Verfassungsauftrag nach Grundgesetz Art. 140 wäre leicht Genüge getan – mit einem Bundesgesetz, das die Kirchen leer ausgehen läßt. Doch die enge Verbandelung der Kirchen mit dem Staat läßt das nicht zu. Deshalb werden findige und spitzfindige Verfassungsjuristen wieder einen Dreh entdecken, der kirchliche Ansprüche erneut begründen hilft. Dann wird der Streit weitergehen – um die Höhe der Ablösungssumme. Dazu gehen die Meinungen schon jetzt weit auseinander. Das Zehnfache der heutigen Jahressumme, also vier Milliarden Euro, wurde schon vorgeschlagen oder das 25fache oder das 40fache, und der Jurist Wolfgang Bock tippt auf einen dreistelligen Milliardenbetrag. Als Staatskirchenrechtler muß er schließlich wissen, daß die Kirche einen guten Magen hat und dafür viel Geld braucht.
Vielleicht setzt sich am Ende die Sicht des offiziellen Kommentars zur »Saarländischen Verfassung von 1947« durch, in dem es zum Art. 39 heißt: »Die Staatsleistungen müssen bleiben.« Dieser Kommentar aus dem Jahre 2009 weiß, daß diese Aussage zwar im Widerspruch zum Grundgesetz Art. 140 steht, gibt jedoch, pfiffig wie Kommentare so sein können, zu Protokoll: »Da eine solche Auseinandersetzung (gemeint: um die Ablösung; H. H.) aus der Sicht der staatlichen Haushalte kaum vorstellbar wäre und die Kirchen viele der ehemaligen Kirchengüter zur Erfüllung ihrer heutigen Aufgaben nicht benötigen, ist die saarländische Regelung sachgerecht, und es ist dem Bundesgesetzgeber anzuraten, den Ablösungsprozeß nach Art. 138 Abs. 1 WRV weiterhin nicht zu aktivieren.« Bleiben die Entschädigungszahlungen bis zum Jüngsten Tage? fragt dazu, etwas verwirrt, der Deutschlandfunk-Kultur.